Gojnormativität
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Gojnormativität

Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen

Vivien Laumann, Judith Coffey

  1. 200 pages
  2. German
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Gojnormativität

Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen

Vivien Laumann, Judith Coffey

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Antisemitismus und jüdische Perspektiven stellen häufig eine Leerstelle in intersektionalen Debatten und Debatten über Intersektionalität dar. Das vorliegende Buch macht jüdische Positionen und Erfahrungen mit dem Konzept der Gojnormativität artikulier- und sichtbar. Es lotet das Verhältnis von Jüdischsein und Weißsein aus, geht der spezifischen Unsichtbarkeit von Juden_Jüdinnen nach und schaut sich Debatten über Antisemitismus und Gedenkpolitiken mit einem spezifischen Fokus an. »Gojnormativität« fordert ein anderes Sprechen über Antisemitismus ein sowie das konsequente und bedingungslose Einbeziehen von Juden_Jüdinnen in intersektionale Diskurse und Politiken. Gleichzeitig ist das Buch ein engagiertes Plädoyer für solidarische und intersektionale Bündnisse und Allianzen.

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Information

Year
2022
ISBN
9783957325310

1. Einleitung

Antisemitismus ist und bleibt eine aktuelle und allgegenwärtige Bedrohung. Die Brutalität dieser mörderischen Ideologie zeigte sich im Attentat von Halle an Jom Kippur 5780 bzw. am 9. Oktober 2019.1 Die Demonstrationen gegen die Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie waren durchzogen von antisemitischen Bildern und Rhetoriken. Antisemitische Schmierereien, Sprüche und Affekte gehören auf deutschen Straßen, in Schulen, Büros, Familien, Vereinen und Freund_innenkreisen zum Alltag. Antisemitismus hat zur Zerstörung jüdischen Lebens in Europa geführt und einen Scherbenhaufen in Städten, Gemeinden, Familien, Selbstbildern und in der jüdischen Wissens- und Kulturproduktion nach 1945 hinterlassen. Dazu gehört, bereits als Kind zu wissen, dass man zu den Verfolgten und Ermordeten gehört hätte, wäre man 50 Jahre früher geboren. Antisemitisches Verhalten äußert sich aber auch in kleinerem, wenngleich nicht weniger zermürbendem Maße: in Auslassungen, Nivellierungen, Infragestellungen, Nichtmitdenken und Übergehen von jüdischen Positionen und Perspektiven.
Ronen Steinke listet in seiner Chronologie antisemitischer Gewalt auf überwältigenden 90 Seiten antisemitische Übergriffe, Gewalttaten und Morde seit 1945 in Deutschland auf.2 Die Recherche- und Meldestelle Antisemitismus Berlin (RIAS) dokumentiert allein für Berlin bezogen auf das Jahr 2020 insgesamt 1.004 antisemitische Vorfälle.3
Antisemitismus ist Normalzustand in Deutschland. Die ideologischen wie materiellen Kontinuitäten sind allerdings dermaßen normalisiert, dass sie manchmal schwer greif- und artikulierbar scheinen.

Diskurse über Antisemitismus

In Deutschland können wir eine geradezu paradoxe Situation beobachten, denn viele der oben genannten Punkte sind Thema, beizeiten sogar in Form einer Hyperthematisierung. Dies gilt vor allem dann, wenn es um die Erinnerung an die Schoa und den Nationalsozialismus geht: Um ein positives deutsches Selbstbild aufrechtzuerhalten, wird Antisemitismus skandalisiert. Doch gleichzeitig wird der gegenwärtig existente Antisemitismus geleugnet, als Import aus arabischen Ländern oder als Ausnahmeerscheinung von Einzeltäter_innen dargestellt. Die Perspektiven von Juden_Jüdinnen4 werden kaum gehört oder ernstgenommen.
In linken Zusammenhängen unterscheidet sich die Thematisierung von Antisemitismus je nach zeitlichem Kontext, Stoßrichtung und Subszene deutlich. Von einer starken Thematisierung in den 1990er und 2000er Jahren durch sogenannte anti-deutsche Linke, die vor allem den Antisemitismus innerhalb linker Szenen in den Fokus nahmen, über das Ignorieren und Nicht-Thematisieren von Antisemitismus als aktuell relevantes Herrschaftsverhältnis, bis hin zu explizit antisemitischen linken Diskursen war und ist alles dabei.
In linken queer-feministischen Kontexten, in denen wir uns verorten, sind differenzierte Auseinandersetzungen mit Antisemitismus sowie mit jüdischen Positionen aktuell wenig präsent. Hinzu kommen spezifisch antisemitische Diskursstränge, die durch Verknüpfungen von Israel und Kolonialismus zustande kommen und den Raum für die Thematisierung von Antisemitismuserfahrungen verengen. Beim ideologischen Disput der politischen Fraktionen in der Haltung zu Israel/Palästina wird über die Definition von Antisemitismus gestritten, als ginge es vor allem darum, Unschuldige vor ungerechtfertigten Antisemitismusvorwürfen zu bewahren. Gleichzeitig ist die Offensichtlichkeit, mit der linker Antisemitismus in den letzten Jahren wieder verstärkt in Erscheinung tritt, erschreckend.
Hinzu kommt die Weigerung, sich ernsthaft mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. Unser Eindruck ist, dass sich viele Linke sowie intersektionale Queer-Feminist_innen mit Antisemitismus als Ideologie und deren Auswirkungen für Juden_Jüdinnen nicht beschäftigen und einer folgenschweren Verwechslung auf den Leim gehen: Aus dem Gefühl heraus, sich mit dem Nationalsozialismus hinreichend beschäftigt zu haben, wird auch das Thema Antisemitismus als »bearbeitet« abgehakt. Auf diese Weise wird Antisemitismus auf die Zeit des Nationalsozialismus begrenzt und damit in der Vergangenheit verortet. Als eigenes Herrschaftsverhältnis mit weitreichenden politischen wie persönlichen Konsequenzen kann er so nicht verstanden werden, ebenso wenig können ideologische Kontinuitäten erfasst und kritisiert werden. Damit werden in der Konsequenz auch Juden_Jüdinnen als Betroffene von heute aktuellem Antisemitismus nicht gesehen bzw. marginalisiert.
Zusammengefasst: Wir sind unzufrieden damit, wie über Antisemitismus (nicht) gesprochen wird – auch in linken Zusammenhängen. Häufig wird Antisemitismus entweder ausgelassen oder abstrakt diskutiert und nicht als etwas begriffen, wovon reale Personen betroffen sind. Schon gar nicht der_die eigene Genoss_in. Das hinterlässt uns oft wütend, traurig, verletzt und einsam.

Herrschaftsverhältnis Antisemitismus und die Schwierigkeit der Definition

Antisemitismus verstehen wir einerseits als die konkrete Feindschaft gegen Juden_Jüdinnen, die verschiedene Formen und Artikulationen annehmen kann – u. a. Schuldabwehr-Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus, biologistischer Antisemitismus. Häufig geschieht dies abstrakt, chiffriert oder über Umwege. Oft aber auch erschreckend offen und unverhohlen. Außerdem tritt Antisemitismus in Erscheinung als eine Feindschaft gegen all das, was als jüdisch gelesen, konstruiert oder gelabelt wird.
Antisemitismus ist darüber hinaus eine Reaktion auf die Moderne, auch wenn die Ursprünge des Antisemitismus im christlichen Antijudaismus zu verorten sind und Antisemitismus damit eine lange vormoderne Geschichte hat. Antisemitismus funktioniert für viele Menschen als umfassendes Welterklärungsmodell und hängt eng mit der kapitalistisch verfassten modernen Gesellschaft zusammen. In antisemitischen Deutungsmustern werden vereinfachte Erklärungen für komplexe Verhältnisse entworfen, etwa indem Kapitalismus personifiziert und auf einige wenige dämonisierte Personen projiziert wird.
Antisemitismus ist also nicht bloß ein Vorurteil oder eine Unterform von Rassismus, sondern ein eigenes Herrschaftsverhältnis, das Gesellschaften strukturiert und einer eigenen spezifischen Analyse bedarf. Als Herrschaftsverhältnis wirken antisemitische Strukturen auf abstrakter und konkreter Ebene zugleich. Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen bis hin zu Morden widerfahren konkreten Menschen und die antisemitischen Handlungen und Taten werden von konkreten Menschen verübt. Die Elemente und Strukturen antisemitischer Ideologien funktionieren als abstraktes Strukturprinzip auch ohne Juden_Jüdinnen. Ein klassisches Beispiel dafür sind Verschwörungsideologien und ihre Versatzstücke, die sich oftmals chiffrierter Bilder oder Umwegkommunikationen bedienen.
Das Sprechen über Antisemitismus erschöpft sich oft in einem Streit über die korrekte Definition: Gehört israelbezogener Antisemitismus dazu oder nicht, ist die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)5 zulässig, ist Antisemitismus ein Teil von Rassismus, wie verhält es sich mit Antizionismus? Die Debatten um Definitionen sind komplex und wichtig, häufig funktionieren sie jedoch als eine Form von »Derailing«, also der gezielten Ablenkung vom eigentlichen Thema. Beispielsweise wenn wegen der »falschen« Definition nicht mehr weitergelesen oder die Umkämpftheit des Feldes als Ausrede genutzt wird, um sich nicht weiter mit Antisemitismus beschäftigen zu müssen. In der Konsequenz werden die Betroffenen, Juden_Jüdinnen, dann allein gelassen, wie Anne Goldenbogen und Sarah Kleinmann in einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie betonen:
Nicht selten werden Konflikte über unterschiedliche Standpunkte sowohl in wissenschaftlichen als auch aktivistischen Räumen hart und verletzend ausgetragen; und oftmals werden Betroffene antisemitischer Gewalt dabei übersehen und ihre Erfahrungen mit alltäglichem sowie strukturellem Antisemitismus überhört.6
Da der Fokus dieses Buches nicht auf der Definition des Begriffes Antisemitismus in seiner Komplexität und Breite liegt, empfehlen wir die zahlreichen bereits erschienenen guten und detaillierten Analysen zu diesem Thema.7

Ziel des Buchs

Dieses Buch will Antisemitismus wieder mehr in den Fokus von linken und queer-feministischen Debatten rücken – aber anders! Wir wollen die Homogenität scheinbar nicht-jüdischer Räume und Normen in Frage stellen und Nicht-Juden_Jüdinnen dadurch zum Nachdenken über antisemitische Strukturen sowie die eigene Positionierung anregen. Es geht uns darum, die Sichtbarkeit jüdischer Positionen in linken und queer-feministischen Zusammenhängen zu erhöhen, und so nicht nur die Selbstverständlichkeit unserer Existenz und unseres Hier-Seins zu behaupten, sondern auch neue Räume für Auseinandersetzungen und Austausch zu schaffen. Jüdische Positionen sollen gestärkt und Erfahrungen artikulierbar werden. Das Buch versteht sich in diesem Sinn als ein Beitrag zum Empowerment von Juden_Jüdinnen. Nicht zuletzt möchte das Buch aus linker feministischer jüdischer Perspektive einige Gedanken rund um Jüdischsein, Antisemitismus und Gedenkpolitik formulieren. Dabei versteht sich von selbst, dass wir weder für alle Personen sprechen können, die jüdische Bezüge haben, noch dass es die eine feministische jüdische Perspektive gibt.
Wir verfolgen das Anliegen, Debatten und Diskursen, die uns seit Jahren beschäftigen, einen Raum zu geben und komplexen Fragen und Diskussionen sowie darin enthaltenen Verkürzungen nachzugehen. Fragen, die uns in diesem Buch leiten, sind:
Wieso werden Antisemitismus und Jüdischsein in intersektionalen Debatten so oft nicht berücksichtigt?
Wie kann das Verhältnis von Weißsein und Jüdischsein gedacht werden?
Welche Probleme und Leerstellen bringt die deutsche Erinnerungspolitik an die Schoa mit sich? Und inwiefern trifft diese Kritik auch auf linke Gedenkpolitik zu?
Wer spricht über Antisemitismus? Wer wird gehört bzw. nicht gehört?
Wie kann es sein, dass Antisemitismus in weiten Teilen der Linken nicht als aktuelles und ernstzunehmendes Problem gilt?
Auf diese Fragen werden wir keine abschließenden Antworten finden, aber hoffentlich neue Anregungen und Erkenntnisse liefern.

Jüdische Stimmen im Diskurs um Antisemitismus

In den letzten Jahren sind jüdische Stimmen hörbarer geworden.8 Es finden innerjüdisch mehr Diskussionen und Aushandlungen statt, auch von Differenzen. Zu nennen wären hier beispielhaft die Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart, der »Desintegrations-Kongress« und die »Radikalen Jüdischen Kulturtage« im Maxim Gorki Theater9, die Texte von Sasha...

Table of contents

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. INHALTSVERZEICHNIS
  6. 1. Einleitung
  7. 2. Jude und Goj
  8. 3. Gojnormativitätskritik
  9. 4. Jüdischsein und Antisemitismus in Intersektionalitätsdebatten
  10. 5. Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten von Juden_Jüdinnen
  11. 6. Gojnormativität in der Erinnerung an die Schoa und an aktuelle antisemitische Gewalt
  12. 7. In der gojischen Komfortzone: Abwehr von Antisemitismuskritik
  13. 8. Das große Gojlaber: Vom gojnormativen Reden über Antisemitismus
  14. 9. Raus aus der gojnormativen Komfortzone! Für solidarische Bündnisse und Allianzen gegen Antisemitismus
  15. Weitere E-Books von Verbrecher Verlag
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APA 6 Citation

Laumann, V., & Coffey, J. (2022). Gojnormativität (1st ed.). Verbrecher Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/3269530/gojnormativitt-warum-wir-anders-ber-antisemitismus-sprechen-mssen-pdf (Original work published 2022)

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Laumann, Vivien, and Judith Coffey. (2022) 2022. Gojnormativität. 1st ed. Verbrecher Verlag. https://www.perlego.com/book/3269530/gojnormativitt-warum-wir-anders-ber-antisemitismus-sprechen-mssen-pdf.

Harvard Citation

Laumann, V. and Coffey, J. (2022) Gojnormativität. 1st edn. Verbrecher Verlag. Available at: https://www.perlego.com/book/3269530/gojnormativitt-warum-wir-anders-ber-antisemitismus-sprechen-mssen-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Laumann, Vivien, and Judith Coffey. Gojnormativität. 1st ed. Verbrecher Verlag, 2022. Web. 15 Oct. 2022.