Part I: Historical, Literary, and Philosophical Context
Mary Snell-Hornby
Verstehen und VerstÀndlichkeit: Schleiermachers Akademierede aus der Sicht einer Leserschaft von heute
Abstract: In this paper, I take as a starting point the holistic conception of understanding promoted by Fritz Paepcke and by Schleiermacher himself, who expressed the opinion that a speaker can only be understood âthrough his nationality and his timesâ. My essay attempts to shed light on a number of key passages and concepts from the Academy address both within the context of its time and from the viewpoint of a readership of today. Thus, it is of major importance to consider the intense debate on translation theory in Germany around the year 1813, which centred on the two extreme methods described by Schleiermacher and known today as âforeignisationâ and âdomesticationâ. I see a problem in Schleiermacherâs categorical rejection of a middle ground. In modern literature on translation theory, however, the immediate background of the dichotomy usually remains unnoticed: the controversy between the rigid historicism of Johann Heinrich Voss and the reader-friendly approach of Christoph Martin Wieland, who was praised by Goethe in his commemorative address as âa man of feeling and tasteâ, who âin this issue sought the middle roadâ. I explain the difference between the approaches championed by Voss and, respectively, Wieland, by examining a brief passage of translated text. A further section of my article discusses the concept of comprehensibility as reflected in Schleiermacherâs imagery: taking the archaic noun Blendling (half-caste) and its translation by AndrĂ© Lefevere (1977), I show how dated and thus how misleading such a metaphor can be for a modern readership. In conclusion, Schleiermacherâs view that a text can only be adequately understood within its historical context appears completely plausible, but the middle ground (as opposed to Schleiermacherâs categorical dichotomy) represented by the lesser known Wieland seems more convincing for a readership of today.
1Einleitung: Faktoren des Verstehens
âVerstehen konstituiert sich nicht mĂŒhsam und allmĂ€hlich, Verstehen ist ein Vorgang, bei dem durch einen Text Erfahrungs- und WissensbestĂ€nde mobilisiert werden und zur Beschreibung dessen fĂŒhren, was ein verstandener Text ist. Verstehen konkretisiert also aus der vorliegenden Textmitteilung einen Zusammenhang mit dem umgreifenden Ganzen, das schon vor dem Text da istâ (Paepcke 1986, 104). Mit dem PhĂ€nomen des Verstehens hat sich in der Ăbersetzungswissenschaft kaum jemand so grĂŒndlich auseinandergesetzt wie Fritz Paepcke. Die oben zitierten Ăberlegungen stammen aus seinem Aufsatz âĂbersetzen als Hermeneutikâ aus dem Jahr 1979, und sie beleuchten Faktoren, die in den damaligen Ă€quivalenzfixierten, linguistisch orientierten Theorien des Ăbersetzens kaum Platz fanden: der Erfahrungshorizont der Leserschaft, die Frage der Rezeption und vor allem die Einbettung eines Textes in einen breiten historischen oder gesellschaftlichen Kontext. Interessanterweise decken sich diese Ansichten mit denen aus der Hermeneutik Schleiermachers, der sie allerdings konkreter, breiter und auch drastischer formulierte:
Eben so ist jede Rede immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben, dem sie angehört, d.h. da jede Rede nur als Lebensmoment des Redenden in seiner Bedingtheit aller seiner Lebensmomente erkennbar ist, und dieà nur aus der Gesammtheit seiner Umgebungen, wodurch seine Entwicklung und sein Fortbestehen bestimmt werden, so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine NationalitÀt und sein Zeitalter. (Schleiermacher 1838, 13)
Gemeinsam legen diese beiden Zitate das theoretische Fundament fĂŒr den vorliegenden Beitrag, wobei es auffallen dĂŒrfte, dass Paepcke eher aus der Perspektive des Lesers, also des Verstehenden, Schleiermacher aus der Perspektive des âRedendenâ argumentiert. Bei Paepcke werden im Verstehensvorgang die âErfahrungs-und WissensbestĂ€ndeâ des Lesenden mobilisiert, der den Zusammenhang mit einem bereits bestehenden âumgreifenden Ganzenâ herstellt. Bei Schleiermacher ist ein Text als âLebensmomentâ aus dem âganzen Lebenâ des Redenden zu verstehen, und zwar ânur aus der Gesammtheit seiner Umgebungenâ, und auĂerdem ist der Redner sogar ânur [âŠ] durch seine NationalitĂ€t und sein Zeitalterâ verstehbar.
Wenn wir uns mit Schleiermachers Akademierede beschĂ€ftigen, erhalten solche ĂuĂerungen eine besondere Brisanz. In den letzten Jahren ist der Name Schleiermachers in der globalen scientific community der Translation Studies vor allem im Zusammenhang mit Lawrence Venutis bekannt gewordener Dichotomie foreignisation / domestication (vgl. Venuti 1995) genannt worden, die auf eine einzige Stelle in der recht langen Rede Schleiermachers zurĂŒckgeht, und zwar auf die berĂŒhmten Zeilen:
Entweder der Uebersezer lÀsst den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lÀsst den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. Beide sind so gÀnzlich von einander verschieden, dass durchaus einer von beiden so streng als möglich muss verfolgt werden, aus jeder Vermischung aber ein höchst unzuverlÀssiges Resultat nothwendig hervorgeht, und zu besorgen ist, dass Schriftsteller und Leser sich gÀnzlich verfehlen. (Schleiermacher 1963, 47)
Es ist bemerkenswert, dass diese Textstelle in der heutigen Fachliteratur â losgelöst vom Kontext und vom Hintergrund der Akademierede, also entgegen den Aussagen sowohl von Paepcke als auch von Schleiermacher â fast ein Eigenleben fĂŒhrt, wobei die beiden entgegengesetzten âMethodenâ als eine Art Universalie des Ăbersetzens diskutiert werden. Schleiermachers Sprache ist vor allem metaphorisch, denn er beschreibt hier zwei âWegeâ â wissenschaftliche Termini nennt er keine. DafĂŒr sind in der neueren Fachliteratur etliche Begriffspaare fĂŒr diese âWegeâ entstanden, die aber inzwischen sozusagen als feste Termini gelten, unter anderem âVerfremdungâ und âEinbĂŒrgerungâ (Schneider 1985), âeinbĂŒrgendesâ vs. âausbĂŒrgendes Ăbersetzenâ (Turk 1987) oder ,âassimilierendesâ (bzw. âangleichendesâ) vs. âverfremdendesâ Ăbersetzen (Vermeer 1994). In der englischsprachigen Literatur benutzt Pym (1995, 5) âforeignising or literalist (more word-for-word)â vs. âdomesticating or naturalising [âŠ] (more sense-for-sense)â, wĂ€hrend Venuti durch seine substantivische Dichotomie foreignisation und domestication Bekanntheit erlangt hat, als wĂ€re sie seine eigene PrĂ€gung (vgl. Snell-Hornby 2004). Allerdings ist anzumerken, dass gerade diese Unterscheidung (insbesondere bei Pym âword-for-wordâ vs. âsense-for-senseâ) keineswegs eine Entdeckung von Schleiermacher und schon gar nicht von Venuti ist, sondern sich seit Cicero (ânon ut interpres [âŠ] sed ut oratorâ) wie ein roter Faden durch die Geschichte des Ăbersetzens zieht (vgl. Snell-Hornby 1988, 9). Es soll hier kein weiterer Beitrag zur endlosen Diskussion dieses Themas entstehen: anzumerken ist nur, dass das VerstĂ€ndnis von âWortâ und âSinnâ sowie die daraus entstehenden Debatten nicht isoliert im luftleeren Raum bestehen, sondern â von Cicero bis Venuti â sehr wohl von den jeweils herrschenden historischen UmstĂ€nden bestimmt wurden (vgl. Snell-Hornby und Schopp 2012). Das Ziel dieses Beitrags ist es eher, einen Blick auf die unmittelbar historischen, aber vor allem auf die literaturgeschichtlichen UmstĂ€nde der Akademierede Schleiermachers im Jahr 1813 zu werfen, und somit den Versuch zu unternehmen, den âLebensmomentâ seiner AusfĂŒhrungen im Rahmen der âGe-sammtheit seiner Umgebungenâ aus heutiger Sicht zu verstehen. Das kann allerdings nur sehr bedingt gelingen: wie Vermeer sehr richtig feststellt, ist die Zeit âeine EinbahnstraĂe, und jede Betrachtung eines PhĂ€nomens, die ja von einem jeweils eigenen zeit- und raumbedingten Punkt ausgehen muss, sieht das PhĂ€nomen nolens volens unter ihrem eigenen (individuellen) Blickwinkelâ (Vermeer 1994, 165). So ist auch Paepcke zu verstehen, wenn er meint, dass âdurch einen Text Erfahrungs- und WissensbestĂ€nde mobilisiert werdenâ â in diesem Fall aus unserer Position des Jahres 2015 mit einem sehr lĂŒckenhaften RĂŒckblick ĂŒber zwei Jahrhunderte hinweg.
2Die ZusammenhÀnge
Friedrich Schleiermacher (1768â1834) hielt seine Rede âUeber die verschiedenen Methoden des Uebersetzensâ am 24. Juni 1813 vor der Königlich-PreuĂischen Akademie der Wissenschaften in Berlin â anwesend waren allerdings nach Recherchen von Werner Heidermann (2008, 10) lediglich sieben Personen. Der Bedeutsamkeit seiner Rede tut das aber keinen Abbruch, auch wenn sie offenbar nur in ĂŒbersetzungswissenschaftlichen Kreisen diskutiert werden dĂŒrfte: in seinem Wikipedia-Profil wird Schleiermacher als âprotestantischer Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchenpolitiker und PĂ€dagogeâ (www.wikipedia.org/wik/, Zugriff 04.04.2013) aber nicht als Ăbersetzer bezeichnet. Eine ErwĂ€hnung seiner bahnbrechenden Akademierede sucht man hier vergebens (auch wenn allgemein bekannt sein dĂŒrfte, dass er Platon ĂŒbersetzte), so dass die âGesammtheit deren Umgebungenâ in diesem Kontext kaum nachvollziehbar wĂ€re. FĂŒr unseren Zweck dĂŒrfte aber die Feststellung genĂŒgen, dass Schleiermacher ab 1810 neben Wilhelm von Humboldt als MitbegrĂŒnder der Berliner UniversitĂ€t dort Professor und als erster Dekan der Theologischen FakultĂ€t tĂ€tig war; Mitglied der Akademie wurde er 1811. Er war also ein Gelehrter von hohem Rang, wobei fĂŒr uns vor allem seine intensive BeschĂ€ftigung mit der Ăbersetzung und eine Forderung im Jahr 1814 nach einer eigenstĂ€ndigen Disziplin der âUebersetzungswissenschaftâ (vgl. Salevsky 1994, 159) sowie seine lebenslange und produktive BeschĂ€ftigung mit der Hermeneutik wesentlich sind (vgl. Schleiermacher 1838).
Wichtig sind aber auch die historischen ZusammenhĂ€nge. Aus europĂ€ischer Sicht markierte das Jahr 1813 in den Befreiungskriegen gegen Napoleon eine Wende, die im Oktober 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig gipfelte. Im Juni war die Situation aber noch ungewiss. Ganz bestimmt war jedoch nach den Jahren der Herrschaft Napoleons das Bestreben der Nationsbildung in Europa, vor allem in Deutschland, von herausragender Bedeutung, und dabei spielte die Sprache und somit das Ăbersetzen ins Deutsche eine entscheidende Rolle.
2.1âWielandische oder Vossische Manierâ?
Aus ĂŒbersetzungswissenschaftlicher Sicht sticht aber hervor, dass wir uns im Jahr 1813 mitten im Zeitalter der Romantik befinden, die in Deutschland eine BlĂŒtezeit der Ăbersetzung hervorbrachte: eine erstaunlich stabile geistige HochblĂŒte mitten in Zeiten der politischen Unsicherheit. Beteiligt waren zudem die herausragenden wissenschaftlichen und literarischen Persönlichkeiten des Landes: Johann Wolfgang von Goethe (1749â1832), Wilhelm von Humboldt (1767â1835) und August Wilhelm von Schlegel (1767â1845) sind nur einige Namen der Beteiligten, die bis heute ihre BerĂŒhmtheit nicht eingebĂŒĂt haben. Es entstand unter ihnen eine Debatte zum Wesen des Ăbersetzens, die ihresgleichen sucht. Dokumentiert sind ihre Aussagen in dem Band Weltliteratur. Die Lust am Ăbersetzen im Jahrhundert Goethes (Tgahrt 1982), der als Katalog zu einer Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar anlĂ€sslich des 150. Todestages von Goethe erstellt wurde. Mit seinen unzĂ€hligen Dokumenten, Kommentaren, Anekdoten, Briefausschnitten, Zitaten, TextauszĂŒgen und Illustrationen (PortrĂ€ts, Faksimiles von Manuskripten, Theaterzetteln und Korrespondenz) vermittelt dieser ĂŒber 700 Seiten starke Band eine Ahnung von dem stupenden ĂŒbersetzerischen Engagement dieser Zeit (vgl. Snell-Hornby und Schopp 2012). FĂŒr das VerstĂ€ndnis von Schleiermachers Akademierede gehört ein solches Umfeld ohne Zweifel zu den wichtigsten Faktoren.
Dazu sind allerdings auch Kenntnisse der theoretischen Auseinandersetzungen notwendig, die der Rede vorausgegangen waren, aber heute auĂerhalb der engsten Fachkreise kaum noch diskutiert werden. Diese gehen auf einen damals sehr einflussreichen Philologen namens Johann Heinrich Voss (1751â1826) zurĂŒck, der vor allem fĂŒr seine Ăbersetzungen von Homer berĂŒhmt wurde (und bei Kennern noch heute bekannt ist). Voss orientierte sich in seinen Ăbersetzungen eher an der strengen Schule der AufklĂ€rung als an den neueren Ideen der Romantiker:
Johann Heinrich Voss ĂŒbersetzte Homer und Vergil in Hexametern, aber nicht mehr in der seit Klopstock frei nachgebildeten und wie ihm schien regellosen Form, die âjeder, der sechs zĂ€hlen könnteâ, glaubte âabfingern zu könnenâ. Er sucht die antike Versgestalt in allen Nuancen wiederzugeben, nach ihren Regeln, und sich dem Original auch in der Wortbildung und Wortstellung so eng anzuschlieĂen, dass seine Ăbersetzungen, je konsequenter er verfuhr, den Zeitgenossen immer befremdlicher, âundeutscherâ vorkamen. Wer sich so historisierend und klassizistisch auf den isolierten, fĂŒr unantastbar und fehlerlos gehaltenen Text konzentrierte, schien keine RĂŒcksicht auf das Publikum und auf den âGeniusâ der eigenen Sprache zu nehmen, er schien sich selbst der Freiheit zu berauben, den Eindruck des Originals auch auf andere Weise wiederzugeben als durch die VerĂ€nderung der eigenen Sprache, die Verletzung ihrer Regeln. (Tgahrt 1982, 269)
Im Gegensatz zu dieser Auffassung steht die Position von Christoph Martin Wieland (1733â1813), der in der deutschen Ăbersetzungswissenschaft vor allem dafĂŒr bekannt wurde, dass er zwischen 1762 und 1766 zweiundzwanzig Dramen von Shakespeare in Prosa ĂŒbersetzte. Seine ĂŒbersetzerische Strategie fasst Tgahrt wie folgt zusammen:
Er gewann seiner Ăbersetzerpraxis keine Doktrin ab, die sich wie die Vossische hĂ€tte durchsetzen lassen, und er gestand einlenkend und höflich der andern Partei mancherlei zu, im Ă€uĂersten Falle sogar âeine Sprache, die freilich in Deutschland nirgends so gesprochen, aber doch von jedem Deutschen verstanden wirdâ. Er hatte nichts dagegen, sie durch Archaismen oder regionale Wendungen zu erweitern; ihm selbst haben Rezensenten Abweichungenvon der Hochsprache, der Norm vorgeworfen. Aber die Grenze schien ihm ĂŒberschritten, wo ein Ăbersetzer durch âneologischeâ Treue im einzelnen âeine schon so viele Jahrhunderte bestehende Sprache wie die unsrige allein nach seinem DĂŒnkel umzuschaffenâ sich anmaĂte. Ăbersetzungen sollten den âSchein eines Originalsâ behalten, den fremden Autor vorstellen, âwie er gesungen hĂ€tte, wenn unsere teutsche Sprache seine Sprache gewesen wĂ€reâ. Er trat damit nicht fĂŒr frĂŒhere bedenkenlose Eindeutschung ein, hatte vielmehr das fremde Kunstwerk, seine Wirkung im ganzen, sein ursprĂŒngliches und sein neues Publikum im Auge. (Tgahrt 1982, 269 â 70)
Ganz wesentlich war fĂŒr Wieland, im Gegensatz zu Voss, den Leser der Ăberset...