1Grundzahlen
Das ZĂ€hlen ist eine grundlegende menschliche TĂ€tigkeit, die schon in der Rechenkunst der Babylonier und Ăgypter hoch entwickelt war. Aber erst in der griechischen Mathematik ist die Zahl zu einem Gegenstand des Denkens geworden, zunĂ€chst wohl in der altpythagorĂ€ischen Lehre vom Geraden und Ungeraden, wie sie im IX. Buch von Euklids Elementen erhalten geblieben ist. In den Elementen gibt es auch eine erste explizite Definition der Zahl (arithmos):
die Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte Menge.1
Aus heutiger Perspektive erscheint die Definition noch als sehr naiv oder bloĂ orakelhaft, zumal das begriffliche Feld der Zahlen und ihrer FamilienĂ€hnlichkeiten, wie Wittgenstein solche FĂ€lle nennt,2 sich als wesentlich komplizierter darstellen. Denn man hat heute nicht nur die Zahl im Sinne des Begriffs der natĂŒrlichen Zahlen, sondern die Zahlen im Sinne verschiedener Arten von Zahlen wie der rationalen oder reellen Zahlen oder aber auch der endlichen und unendlichen Ordinal- und Kardinalzahlen zu erlĂ€utern. Hier gibt es keine gemeinsame Definition.
Der Sache nach hatte das William James schon vor Wittgenstein und seinem Konzept eines âSprachspielsâ am Fall des Religionsbegriffes und anhand des Kontrasts zwischen der Religion und den Religionen demonstriert.3 So wie man monotheistische, polytheistische, atheistische, auch philosophische, politische, institutionelle oder rein persönliche Religionen kennt, gibt es auch eine Mannigfaltigkeit der Zahlenarten, welche keine gemeinsame Charakteristik haben. FĂŒr die Operationen, strukturellen Eigenschaften oder Anwendungsgebiete der Zahlen gibt es allerdings Ketten von partiellen Ăhnlichkeiten, die etwa die natĂŒrlichen Zahlen sowohl mit den Ordinalzahlen als auch den reellen und komplexen Zahlen verbinden. Im Laufe der Zeit hat man fĂŒr verschiedene Zwecke verschiedene Zahlenbereiche eingefĂŒhrt, u. a. die so genannten negativen, algebraischen, imaginĂ€ren, infinitesimalen, hyperkomplexen, transfiniten oder Nichtstandard-Zahlen.4 Gleichzeitig haben sich die Begriffe der natĂŒrlichen (kardinalen und ordinalen) und der reellen Zahl (des Kontinuums) weiterentwickelt. Das geschah nicht nur extensional (in gewissen Erweiterungen der natĂŒrlichen Zahlenreihe und der verschiedenen reellen Zahlenkörper), sondern auch intensional (es gibt verschiedene Konstruktionen des Kontinuums) und damit begrĂŒndungstheoretisch (es gibt verschiedene Antworten auf die Frage von Richard Dedekind: âWas sind und was sollen die Zahlen?â).
Ohne nach einer allgemeingĂŒltigen Definition zu streben, was in Hinblick auf die Mannigfaltigkeit der Zahlengebiete offenbar aussichtslos ist, kann man den Zahlbegriff mit dem verwandten Allgemeinbegriff des Quantums verbinden, der Menge, GröĂe und Zahl umfasst. Die allgemeine Aufgabe der Zahlen kann dann als Quantifizierung angesehen werden. Dabei fĂ€llt auch schon der Zusammenhang von ZĂ€hlen und Sprechen auf, wenn wir AusdrĂŒcke wie âerzĂ€hlenâ oder âto give an accountâ betrachten. Diese VerknĂŒpfung ist am Ende auch fĂŒr den Ăbergang von Zahlen als Momenten (Hilfsmittel) einer Praxis des ZĂ€hlens, Rechnens und Messens zu den Zahlen als selbstĂ€ndigen (d. h. rein quantitativ unterschiedenen) Objekten der Untersuchung verantwortlich, welche je eigene Eigenschaften und eigene Urteilsformen haben.
1.1Von der synkategorematischen zur objektiven Rede
Mit Frege gesehen, also sprachanalytisch, handelt es sich beim Ăbergang von den so genannten (empirisch)
benannten Zahlen bzw. der entsprechenden Ausdrucksformen, wie â5 Ăpfelâ, â2,5 Pfundâ oder vielleicht sogar schon
FuĂâ, zu den
reinen Zahlen, wie 5,
und
die eine
selbstĂ€ndige Bedeutung haben, um eine gegenstandsbildende Abstraktion. Es geht um den Ăbergang von SĂ€tzen wie
(a)im Korb gibt es 5 Ăpfel
zu SĂ€tzen wie
Nach Freges bekannter Analyse5 findet man den Zusammenhang in der Beobachtung, dass im praktischen ZĂ€hlen der beigefĂŒgte Begriff âApfelâ oder âKorbâ die relevante Einheit (also 1 Apfel, 1 Korb) nennt, ohne welche die zu einer Zahlangabe fĂŒhrende Frage âwie viel?â gar keinen konkreten Sinn hat. Im Unterschied dazu erhĂ€lt man durch die Frage
(c)wie viele Ăpfel gibt es im Korb?
eine klare Anleitung, wie der Ausdruck
(d)die Anzahl der Ăpfel im Korb
zu verstehen ist, auch wenn (c) zunÀchst vielleicht nur mit Hilfe einer Redewendung wie der folgenden zu beantworten ist:
(e)die Anzahl der Ăpfel in dem Korb ist gleich der Anzahl der Knöpfe in der Tasche.
In (e) unterstellt man noch keinen eigenstĂ€ndigen Gegenstandsbereich der (An-) Zahlen, sondern nur die Praxis einer umkehrbar eindeutigen, oder bijektiven Zuordnung der unter die entsprechenden Begriffe fallenden GegenstĂ€nde. Unter Bijektion versteht man dabei weiterhin eine Zuordnung, welche jedem Gegenstande vom Typ A (Apfel) genau einen Gegenstand vom Typ B (Knopf) beiordnet, so dass am Ende die GegenstĂ€nde A mit den GegenstĂ€nden B und umgekehrt B mit A eindeutig verpaart sind und keine nichtverpaarten GegenstĂ€nde verbleiben. (Siehe Kap. 8 fĂŒr eine weitere ErklĂ€rung.) Es ist genau diese Praxis einer bijektiven Zuordnung, welche fĂŒr die EinfĂŒhrung der natĂŒrlichen Zahlen in die Gemeinsprache verantwortlich ist.
Die Erfindung der Zahlen wird daher auf interessante Weise zu einem paradigmatischen Analogon fĂŒr die Erfindung des Geldes. Die Abstraktion des reinen Geldwerts ist ja in der Tat ein Motor der natĂŒrlichen Erweiterung des Tauschhandels. Auch das Geld hat eine Bedeutung nur im Ganzen des gemeinsamen menschlichen Handelns. Es gehört nie zu den Endzielen, sondern immer nur zu den Ziele vermittelnden Instrumenten. Dass manche das ganze Leben der Mathematik, dem Bankwesen, dem Studium der Sprache(n), oder der rein Geizige ausschlieĂlich der Vermehrung des Geldbesitzes, weihen können, ist eine andere Sache, die mit der selbst-bewussten, selbst-reflexiven Natur des Menschen und der Möglichkeit der Arbeitsteilung und Themenfokussierung zusammenhĂ€ngt. FĂŒr die arithmetische Sprache werden wir besonders in Kap. 11 auf diesen Kontext zurĂŒckkommen.
Die Rolle der Antwort (e) in der Formation einer wissenschaftlichen Arithmetik ist dabei eine dreifache. (1) Erstens markiert sie einen Ăbergang zu der verwandten Antwort
(f)die Anzahl der Ăpfel in dem Korb ist 5,
in welcher man die PrĂ€senz einer konkreten Tasche als BehĂ€lter konkreter Knöpfe ersetzt durch die situationsinvariante Möglichkeit, eine Anzahl durch ein Zahlwort zu kennzeichnen, welches die Anzahl der VorgĂ€ngerzahlwörter zĂ€hlt. Da die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten der Artikulation der Zahlterme etwa im griechischen, römischen oder arabischen System gleichgĂŒltig sind, sagen wir, dass wir nicht die Zahlwörter, sondern die abstrakten Zahlen zum ZĂ€hlen verwenden. Man ersetzt so die Menge der konkreten Knöpfe durch abstrakte Einheiten, die es sozusagen in jedermanns âKopfâ gibt. (2) In (e) und (f) zeigt sich zweitens, dass die Auffassung der natĂŒrlichen Zahlen als endliche Kardinal- bzw. Ordinalzahlen, wie sie sich in Antworten auf die Grundfragen âwie viel?â bzw. âan der wievielten Position in einer Reihe?â manifestiert, von Anfang an eng zusammenhĂ€ngen. Schon aus mnemotechnischen GrĂŒnden kann man nĂ€mlich die zu zĂ€hlenden Einheiten mit ihrer Ordnung in der entstehenden Reihe gleichsetzen und beides dann als 1, 2, 3, 4, ⊠notieren, d. h. in der Form einer Folge, deren Glieder nicht nur die Stellung, sondern auch die Anzahl der vorangehenden Glieder (einschlieĂlich des betreffenden Gliedes selbst oder der noch einzufĂŒhrenden Null) vertreten. (3) Drittens demonstrieren die Antworten (e) und (f) schon ihrer Form nach eine Ă€uĂerst wichtige logische Einsicht, welche (u. a.) Frege in seinen Grundlagen explizit machte,6 nĂ€mlich dass die Erweiterung der bestehenden Redepraxis um die neuen Sprachmittel wie âAnzahlâ oder â5â mit dem PhĂ€nomen der Gleichheit zusammenhĂ€ngt.
1.2Die Gleichheit und ihre Logik
Wie schon David Hume in seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen gezeigt hatte,7 ist die IdentitĂ€t und die Permanenz der GegenstĂ€nde der AuĂenwelt (genauso wie die IdentitĂ€t von âIchâ und die KausalitĂ€t der Ereignisse) nicht einfach aus den SinneseindrĂŒcken herzuleiten. Denn die Sinne geben uns immer nur eine Abfolge von stets verschiedenen und sogar partiell unabhĂ€ngigen, auch perspektivisch kontingenten âEmpfindungenâ, die als solche noch keine Wahrnehmungen von GegenstĂ€nden sind. Rein empirisch ist also, wie es scheint, ein Satz der Form
M und N sind gleich
immer âfalschâ oder bestenfalls âapproximativ wahrâ. Humes âskeptische Lösungâ des Paradoxes, dass wir trotzdem an die von uns unabhĂ€ngige (und kausal gegliederte) Welt der GegenstĂ€nde glauben, welche in ihrer IdentitĂ€t hinter der DiversitĂ€t der Erscheinungen stehen, besagt bekanntlich, es gebe dafĂŒr keine ârationalenâ GrĂŒnde (im Sinn theoretischen Wissens), sondern nur praktische OpportunitĂ€ten, auf der Grundlage einer sich auf gewisse Relationen von Ăhnlichkeit und RegelmĂ€Ăigkeit stĂŒtzenden Gewöhnung. Doch Gewöhnung ist etwas, was in uns und nicht in der AuĂenwelt wurzelt. Daher ist bei Hume in gewissem Sinne schon die Reaktion Kants vorweggenommen, welcher die passive Macht der Gewohnheit zumindest partiell durch die SpontaneitĂ€t tĂ€tigen Handelns und damit auch einer Art gesetzgebender Vernunft mit ihren vereinheitlichenden Funktionen zu ersetzen suchte.
Die allgemeine Rolle der Gleichheit in der ganzen Geschichte besteht nun darin, dass sie nichts unmittelbar Gegebenes (Humes âimpressionâ, dann auch âperceptionâ und die davon abgeleitete âideaâ) darstellt, sondern als eine (vermittelte) Verneinung der (unmittelbaren) Ungleichheit zu deuten ist. Die unmit...