Dumme Wut. Kluger Zorn
eBook - ePub

Dumme Wut. Kluger Zorn

Anklagen und Freisprüche

Helmut Ortner

  1. 136 páginas
  2. German
  3. ePUB (apto para móviles)
  4. Disponible en iOS y Android
eBook - ePub

Dumme Wut. Kluger Zorn

Anklagen und Freisprüche

Helmut Ortner

Detalles del libro
Vista previa del libro
Índice
Citas

Información del libro

Kluge und pointierte Zeit-Diagnosen und Zeit-Reflexionen. Es geht um verdrängte Vergangenheit und kontaminierte Gegenwart, um religiöse Anmaßung und säkulare Verteidigung, um falsche Gerechtigkeit und inhumane Gnade, um populistische Wut und politischen Zorn.Es geht um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Autonomie und Konformismus, Moral und Effizienz, Wissen und Glaube: es geht um Selbstvergewisserung. Essays zum Stand der Dinge und zum Lauf der Zeit: ernüchternd, erhellend und provokant.

Preguntas frecuentes

¿Cómo cancelo mi suscripción?
Simplemente, dirígete a la sección ajustes de la cuenta y haz clic en «Cancelar suscripción». Así de sencillo. Después de cancelar tu suscripción, esta permanecerá activa el tiempo restante que hayas pagado. Obtén más información aquí.
¿Cómo descargo los libros?
Por el momento, todos nuestros libros ePub adaptables a dispositivos móviles se pueden descargar a través de la aplicación. La mayor parte de nuestros PDF también se puede descargar y ya estamos trabajando para que el resto también sea descargable. Obtén más información aquí.
¿En qué se diferencian los planes de precios?
Ambos planes te permiten acceder por completo a la biblioteca y a todas las funciones de Perlego. Las únicas diferencias son el precio y el período de suscripción: con el plan anual ahorrarás en torno a un 30 % en comparación con 12 meses de un plan mensual.
¿Qué es Perlego?
Somos un servicio de suscripción de libros de texto en línea que te permite acceder a toda una biblioteca en línea por menos de lo que cuesta un libro al mes. Con más de un millón de libros sobre más de 1000 categorías, ¡tenemos todo lo que necesitas! Obtén más información aquí.
¿Perlego ofrece la función de texto a voz?
Busca el símbolo de lectura en voz alta en tu próximo libro para ver si puedes escucharlo. La herramienta de lectura en voz alta lee el texto en voz alta por ti, resaltando el texto a medida que se lee. Puedes pausarla, acelerarla y ralentizarla. Obtén más información aquí.
¿Es Dumme Wut. Kluger Zorn un PDF/ePUB en línea?
Sí, puedes acceder a Dumme Wut. Kluger Zorn de Helmut Ortner en formato PDF o ePUB, así como a otros libros populares de Philosophie y Sozialphilosophie. Tenemos más de un millón de libros disponibles en nuestro catálogo para que explores.

Información

Editorial
Nomen Verlag
Año
2018
ISBN
9783939816546
Edición
1
Categoría
Philosophie

——— Keine Stunde Null

Warum NS-Juristen straffrei ausgingen – und fast alle damit einverstanden waren

Spätsommer 1945. Aus einem Volk von Jublern war ein Volk von Stummen geworden. Aber empfanden die Deutschen, die Opfer und Täter zugleich waren und so viel Leid über andere Völker gebracht hatten, so etwas wie Scham? Oder fühlten sie sich nur auf der Verliererseite? Konnten sie begreifen, was geschehen war, was sie mitgemacht und zugelassen hatten? Die Stunde Null sollte auch die Stunde der notwendigen »Säuberung« der Deutschen werden.
Dazu trafen sich auf Schloss Cecilienhof bei Potsdam die drei Hauptalliierten und unterschrieben ein Dekret, in dem es hieß: »Alle Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, … sind aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern zu entfernen. Diese Personen müssen durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken. …«
Ein Volk stand vor einer politischen und moralischen Reinigungsprozedur durch die Siegermächte. Und das, was die Siegermächte »Entnazifizierung« nannten, war als Vorbedingung für eine kollektive Rehabilitierung der Deutschen konzipiert. Mit dem Dekret sollte die Säuberung ehemaliger NSDAP-Mitglieder auch in geordnetere Bahnen gelenkt werden, denn schon hatte in den einzelnen Besatzungszonen auf höchst unterschiedliche Weise die Verfolgung und Erfassung früherer Nazis begonnen. Lokale »antifaschistische Komitees« verhinderten, dass ehemalige NS-Funktionäre untertauchten, gelegentlich kam es sogar zu Racheakten. Daran aber hatte der »Alliierte Kontrollrat« keinerlei Interesse. Die Entnazifizierung sollte einheitlich und allein in der Zuständigkeit des Kontrollrates durchgeführt werden. Anfang 1946 wurde eine weitere Direktive erlassen, in der genau definiert und kategorisiert war, welche Personen aus welchen Ämtern und Stellungen entfernt werden sollten. Eine zusätzliche Verordnung im Oktober 1946 legte gemeinsame Richtlinien für ganz Deutschland zur Bestrafung von Kriegsverbrechern sowie von Nationalsozialisten fest, die das NS-Regime gefördert und unterstützt hatten.
Ein schwieriges Unterfangen. Wer war Täter, wer nur ein Mitläufer? Hatte nicht jeder eine Ausrede, eine Erklärung? Damit die »Potsdamer Grundsätze« auch in die Praxis umgesetzt werden konnten, einigte man sich zunächst auf fünf Gruppen zur »Heranziehung von Sühnemaßnahmen«: Hauptschuldige – Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer) – Minderbelastete – Mitläufer und Entlastete (Personen, die vor Spruchkammern nachweisen konnten, dass sie unschuldig waren).
Ein Volk auf dem Prüfstand. Die Siegermächte gingen in ihren Besatzungszonen nun daran, die desillusionierten Hitler-Deutschen zu »säubern«. Ein Volk, das sich zwar als Verlierer fühlte, aber nicht unbedingt als schuldig. Mit großem Elan begannen die Amerikaner. Sie verteilten einen sechsseitigen Fragebogen, der von den Deutschen auszufüllen war. Auf 131 Fragen – vom Körpergewicht über Vermögensverhältnisse, Militärdienst, Auslandsreisen, Vorstrafen bis hin zu religiösen Bindungen – wurden eindeutige Antworten verlangt. Unvollständigkeit und Auslassungen standen unter Strafe. Kernstück des Fragebogens waren die Punkte 41 bis 95, unter denen wahrheitsgetreue Angaben über die Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen gefordert wurden. Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte mussten zudem einen Ergänzungsbogen ausfüllen, dessen erste Frage der Mitgliedschaft zum Volksgerichtshof galt. Weiterhin wurde nach Kontakten zur Gestapo, nach Art und Zahl der Führung oder Beteiligung an Prozessen sowie nach Einzelheiten der bisherigen Justizkarriere gefragt.
Anfang Dezember 1945 waren bei den amerikanischen Dienststellen mehr als 13 Millionen Fragebogen eingegangen. Die Prüfung beschränkte sich darauf, die Angaben, wenn möglich, zu überprüfen und auf diese Weise die belastete NS-Spreu vom unbelasteten Weizen zu trennen. Die schlimmsten Nazis fielen in die Kategorie »automatischer Arrest«, andere wurden aus ihren Arbeitsverhältnissen entfernt, harmlose Mitläufer durften ihre Arbeitsplätze und Ämter behalten.
In der französischen und der britischen Zone beschränkte man sich in erster Linie darauf, die personellen Eliten des NS-Systems auszuwechseln. Es galt, die Aufrechterhaltung der Versorgung und Verwaltung nicht zu gefährden, und so praktizierte man die Säuberung nicht allzu streng. Im Vordergrund standen nicht juristische, sondern pragmatische Lösungen. In der britischen Zone beispielsweise trat neben die Bezeichnung »politisch nicht tragbar« und »politisch tragbar« die Zwischenbewertung »tragbar mit Amtsveränderung«. Das half, viele personelle Engpässe zu lösen.
Insgesamt brachten die Entnazifizierungsprozeduren vielfältige Probleme mit sich. Einerseits verursachte die Säuberung empfindlichen Personalmangel, nicht allein in den Führungspositionen; andererseits störten beispielsweise die Internierungslager, in denen im Frühjahr 1946 weit über 100 000 Deutsche der Kategorie »automatischer Arrest« inhaftiert waren, den Demokratisierungsanspruch der westlichen Besatzungsmächte.
Am konsequentesten wurde die Säuberung ehemaliger Exponenten des NS-Regimes in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt, denn hier verfolgte man im Zusammenhang mit einer grundlegenden »antifaschistisch-demokratischen« Umwälzung einen radikalen personellen Neubeginn. Freilich, auch dort rückte bereits ab 1947 der Gedanke der Rehabilitierung in den Vordergrund, vor allem, wenn es sich um einfache NSDAP-Mitläufer handelte. Die Justiz sollte sich ausführlich mit den Vergehen der Aktivisten beschäftigen – doch gab es noch Richter?
Bereits im September 1945 hatte die sowjetische Militäradministration den Aufbau einer demokratischen Justiz befohlen, worin ehemalige NS-Juristen keinen Platz finden sollten. Beinahe 90 Prozent des Justizpersonals wurden danach entlassen. Um das entstandene Vakuum rasch zu füllen, wurden sogenannte »Volksrichterschulen« errichtet, wo Laien in Schnellkursen die Rechtsprechung erlernten.
Weitaus laxer war in dieser Frage eine Anordnung der britischen Militärregierung, nach der immerhin 50 Prozent der jeweils eingesetzten Richter und Staatsanwälte Mitglieder der NSDAP gewesen sein durften. Diese Klausel, damals als »Huckepack-Regelung« bezeichnet, hatte den Vorteil, dass ein Unbelasteter jeweils einen früheren Parteigenossen mit in den Justizdienst hineintragen konnte.
Insgesamt jedoch war bereits Ende 1947 das Interesse – vor allem der Alliierten – an der Entnazifizierung erkennbar erlahmt. Die Säuberung von außen, in Anspielung an die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Prominenz auch »Nürnberg des kleinen Mannes« genannt, war gescheitert. So wurden die Aufgaben bald den neu errichteten Bundesländern übertragen, die zu diesem Zweck jeweils dafür Spruchausschüsse bildeten. Mit zweifelhaftem Erfolg.
Noch immer waren viele Deutsche der Meinung, der Nationalsozialismus sei im Großen und Ganzen eine gute Sache gewesen, die allenfalls schlecht durchgeführt worden sei. Nun sollten diese Deutschen in Eigenregie ihre Entnazifizierung organisieren.
Doch alle Versuche, die anständigen Deutschen von den Nazis, die anständigen Nazis von den schlimmen Deutschen zu trennen, erwiesen sich als unmöglich. Kaum einer mochte als Belastungszeuge auftreten, an Entlastungszeugen dagegen herrschte kein Mangel. Die Deutschen fühlten sich durch die Niederlage schon genug bestraft. Schuldbewusstsein, Sühnebedürfnis oder Scham hatten keinen Platz.

Anpassungsfähigkeit und Opportunismus

Die »wahren Schuldigen« sollten bestraft, die gutgläubigen Nazis aber – das war die vorherrschende Meinung – in Gnaden entlassen werden. So setzte sich ein Nazi-Begriff durch, der sich allein auf exponierte Parteifunktionäre, auf NS-Verbrecher und KZ-Schergen reduzierte, nicht aber auf Zellenleiter und Blockwarte, auf Kassenverwalter und Unterführer, die alle doch nur das »Beste für Deutschland und das deutsche Volk« gewollt hatten. Und auch die Komplizen in herausragenden Positionen, die Offiziere, die Wirtschaftsmanager, die Bürokraten, die Professoren und die Juristen – sie alle fielen durch das grobe Raster der Entnazifizierung.
Diejenigen, die jetzt die gigantische Selbstreinigung vornahmen – die Vertreter der neugeschaffenen Parteien –, waren zwar unbelastet, aber überfordert, und jene, die in den Spruch- und Berufungskammern ihren Juristenverstand bereits wieder für die »deutsche Sache« einsetzten, einigte vor allem das Bedürfnis, mit der NS-Vergangenheit endlich Schluss zu machen.
Viele Richter, geübt in Anpassungsfähigkeit und Opportunismus, die jetzt mit den »Entsorgungsarbeiten« der Vergangenheit betraut waren, begriffen – wen konnte es wundern – die ihnen übertragene Säuberung ganz positivistisch vor allem als Prozedur zur Rettung der eigenen Karriere – und der ihrer Zunftkollegen.
Sie bemühten sich redlich, dass kein Kollege brotlos wurde. Wem die Unbedenklichkeit bescheinigt wurde, der zählte nicht länger als belastet. Wer unter Hitler grausame Strafen und Todesurteile ausgesprochen hatte, der musste nicht unbedingt ein Nationalsozialist gewesen sein. Waren sie nicht lediglich Vollstreckungsbeamte, die geltendes Gesetz angewandt hatten? Und Treue zum Gesetz konnte doch wohl niemanden zum Kriminellen machen? Diese Logik sollte in den nächsten Jahren zur eisernen Rechtsüberzeugung werden, wann immer – selten genug – die Rolle der NS-Justiz zu verhandeln sein sollte.
Die Formel von der bloßen Pflichterfüllung kursierte unter den ehemaligen NS-Juristen, häufig mit dem Hinweis, damit Schlimmeres verhindert zu haben. Eine Rechtfertigung, die bereits im Nürnberger »Juristenprozess« nicht ohne Erfolg strapaziert worden war.
Im dritten von insgesamt zwölf Prozessen, die von den Amerikanern im Lauf des Tribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher durchgeführt wurden, hatten sich am 17. Februar 1947 sechzehn deutsche Juristen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Organisationsverbrechen zu verantworten. Die Juristen, für die Anklagevertreter »die Verkörperung dessen, was im Dritten Reich als Justiz angesehen wurde«, standen stellvertretend für die gesamte deutsche Justiz vor Gericht. Freilich, die exponiertesten Vertreter waren ohnehin nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen: Reichsjustizminister Gürtner war bereits 1941 gestorben, sein Nachfolger Thierack hatte nach Kriegsende in einem englischen Straflager Selbstmord begangen, ebenfalls Reichsgerichtspräsident Bumke, der nach dem Einmarsch der US-Armee in Leipzig seinem Leben ein Ende setzte. Nun waren also sechzehn prominente Repräsentanten der Justiz angeklagt worden, für die man hinreichendes Beweismaterial hatte herbeischaffen können. Für das Reichsjustizministerium standen der ehemalige Staatssekretär und zeitweilige kommissarische Justizminister Dr. Franz Schlegelberger, als ranghöchster Angeklagter, sowie die beiden Staatssekretäre Curt Rothenberger und Ernst Klemm vor Gericht, außerdem der Generalstaatsanwalt Günther Joël und weitere drei Ministerialdirigenten. Zwei Angeklagte schieden wegen Haftunfähigkeit und durch Selbstmord vorzeitig aus dem Verfahren aus. Für den Bereich der Staatsanwaltschaft hatten sich der frühere Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, Ernst Lautz, und Reichsanwalt Paul Barnickel zu verantworten, für die Sondergerichte drei Vorsitzende aus Nürnberg und Stuttgart, für den Volksgerichtshof schließlich der Präsident des Vierten Senats, Günther Nebelung, sowie ein Laienrichter.
Sie alle waren exemplarische Justiztäter. Es ging in diesem Prozess ohnehin weniger darum, Einzeltaten nachzuweisen – die gleichwohl ausführlich zur Sprache kamen –, sondern es ging darum, zu zeigen, dass die Justiz bis zuletzt Teil und Komplize des nationalsozialistischen Terrorsystems gewesen war. Hauptanklagepunkte waren die »Justizmorde und andere Gräueltaten, die sie dadurch begingen, dass sie Recht und Gerechtigkeit in Deutschland zerstörten und dann in ›leeren Hüllen der Rechtsformen‹ zur Verfolgung, Versklavung und Ausrottung von Menschen in einem Riesenausmaß benützten«, wie es die Anklagevertretung formulierte.
Die Beweisaufnahme fiel für die deutsche Justiz ebenso vernichtend aus wie für die einzelnen Angeklagten. Hier standen nicht allein fanatische Nationalsozialisten wie Freisler oder Thierack, sondern vielmehr exemplarische Vertreter des konservativen Juristenstandes vor Gericht, aber gerade diese Tatsache offenbarte die tiefe Verstrickung der Justiz mit dem braunen Terror-Regime. Sie entpuppten sich als Prototypen willfähriger Juristen, ohne die die nationalsozialistischen Machthaber nicht überlebensfähig gewesen wären.
Insgesamt wurden 138 Zeugen gehört, über 2000 Beweisanträge geprüft. Nach zehnmonatiger Prozessdauer – nachdem sich das Gericht ausgiebig mit den vielfältigen Untaten der Justiz beschäftigt hatte, den »Nacht-und-Nebel-Erlassen«, der Polenstrafrechtsverordnung, der Kooperation zwischen Justiz und SS sowie Gestapo – zog die Anklagevertretung schließlich das Fazit:
»Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsrechte und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter der Autorität des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.«
Schlegelberger, den das Gericht eine »tragische Figur« nannte, hatte sich – wie auch die anderen Angeklagten – damit zu rechtfertigen versucht, er sei nur auf dem Posten geblieben, um Schlimmeres zu verhindern. Dies war jene absurde Rechtfertigungsthese, zu der in den nächsten Jahren noch viele NS-Täter greifen sollten.
Am 3. und 4. Dezember 1947 wurden die Urteile verkündet: Schlegelberger, Klemm und zwei weitere Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen fünf und zehn Jahren.
Milde Urteile für Schreibtischtäter und exemplarische Mörder in Roben – ohnehin mit geringem Interesse am Vollzug: Beinahe alle Verurteilten wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Schlegelberger sollte ebenfalls bereits 1951 wieder ein freier Mann sein.
Auch wenn der Nürnberger Juristenprozess einer der wenigen, vielleicht sogar der ernsthafteste Versuch war, das Justizsystem des Dritten Reiches zu erhellen und zu brandmarken, so war die strafrechtliche Ahndung des Unrechts der NS-Justiz gescheitert. Mehr noch: Das Verfahren hatte keinerlei reinigende Wirkung auf die deutsche Juristenzunft. Im Gegenteil. Viele sahen in Nürnberg eine »Sieger- und Vergeltungsjustiz« am Werk und solidarisierten sich mit den Kollegen. Hatten sie denn nicht alle nur ihre Pflicht erfüllt?
Die meisten dachten wie ihr Kollege, der Ex-Marinerichter und spätere Ministerpräsident Hans Karl Filbinger, der aussprach, was alle ehemaligen NS-Juristen schon frühzeitig für sich reklamierten: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.«
Ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Komplizenschaft in der Nazi-Zeit konnten die Juristen so kaum entwickeln. Die Verantwortung für das, was geschehen war, bürdeten sie der politischen Führung auf. Bereits 1947 lieferte der Strafrechtsprofessor Eberhard Schmidt – einer der großen juristischen Lehrer der Nachkriegszeit – auf dem Juristentag die dazu passende Entschuldigungsformel:
»Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hatte die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung für die Folgen dürfen heute weder Rechtslehre noch Justiz beladen werden, da diese ganz allein den um jeden rechtlichen Halt gekommenen Gesetzgeber trifft.«
Neu waren diese Töne nicht. Wie seinerzeit die Weimarer Richter, die nicht der Republik, sondern dem »Staat« gedient hatten, so fühlten sich auch die ehemaligen Richter des Dritten Reiches nun nicht mehr als NS-Komplizen, nein, sie hatten angeblich allein der »Staatsidee« gedient. Dabei war keineswegs zu leugnen, dass die meisten Richter Mitglied der NSDAP gewesen waren oder aber dem NSRB, dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, angehört hatten. Doch die Entnazifizierung hatte längst nicht mehr Vorrang, und ein »einfacher« Parteigenosse gewesen zu sein, galt nicht mehr als Makel.
Hatte man überhaupt eine andere Chance? Wollte nicht jeder letztlich nur in Ruhe seine richterliche Laufbahn unbehindert im Nachkriegs-Deutschland absolvieren? Hatte man nicht allein seine Pflicht getan, als Richter, Staatsanwalt, Justizbeamter? Einem Richter, der behauptete, er habe nur die Staatsräson im Auge gehabt, konnte nichts geschehen. Oder anders ausgedrückt: Ein überzeugter Nazi konnte nach dieser Argumentation durchaus eine edle Gesinnung haben.
Selbst NS-Juristen, die sich im Hitler-Deutschland besonders eifrig hervortaten, mussten um ihre Nachkriegskarriere nicht bangen. Tausende von belasteten Richtern wurden also nicht nur verschont, sie durften wieder amtieren. So kehrten sie rasch an die Richtertische zurück, besetzten die Stühle als Landgerichts- und Oberlandesgerichtspräsidenten, fanden Unterschlupf in den Justizministerien. Von dieser Richtergeneration war kaum ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung zu erwarten. Verständlich: Keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus.
Das Dilemma aus den Anfängen der Weimarer Republik wiederholte s...

Índice

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. —— Kleine Vorrede
  6. —— Die Gegenwart der Vergangenheit
  7. —— Politik ohne Gott
  8. —— Ohne Gnade
  9. —— Keine Stunde Null
  10. —— Der Führer lebt!
  11. —— Dumme Wut, kluger Zorn
  12. —— Anmerkungen und Literatur
  13. —— Abdrucknachweis
  14. Weitere E-Books von Nomen
Estilos de citas para Dumme Wut. Kluger Zorn

APA 6 Citation

Ortner, H. (2018). Dumme Wut. Kluger Zorn (1st ed.). Nomen Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1077471/dumme-wut-kluger-zorn-anklagen-und-freisprche-pdf (Original work published 2018)

Chicago Citation

Ortner, Helmut. (2018) 2018. Dumme Wut. Kluger Zorn. 1st ed. Nomen Verlag. https://www.perlego.com/book/1077471/dumme-wut-kluger-zorn-anklagen-und-freisprche-pdf.

Harvard Citation

Ortner, H. (2018) Dumme Wut. Kluger Zorn. 1st edn. Nomen Verlag. Available at: https://www.perlego.com/book/1077471/dumme-wut-kluger-zorn-anklagen-und-freisprche-pdf (Accessed: 14 October 2022).

MLA 7 Citation

Ortner, Helmut. Dumme Wut. Kluger Zorn. 1st ed. Nomen Verlag, 2018. Web. 14 Oct. 2022.