Dumme Wut. Kluger Zorn
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Dumme Wut. Kluger Zorn

Anklagen und FreisprĂŒche

Helmut Ortner

  1. 136 pages
  2. German
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Dumme Wut. Kluger Zorn

Anklagen und FreisprĂŒche

Helmut Ortner

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Kluge und pointierte Zeit-Diagnosen und Zeit-Reflexionen. Es geht um verdrĂ€ngte Vergangenheit und kontaminierte Gegenwart, um religiöse Anmaßung und sĂ€kulare Verteidigung, um falsche Gerechtigkeit und inhumane Gnade, um populistische Wut und politischen Zorn.Es geht um das VerhĂ€ltnis von Individuum und Gesellschaft, Autonomie und Konformismus, Moral und Effizienz, Wissen und Glaube: es geht um Selbstvergewisserung. Essays zum Stand der Dinge und zum Lauf der Zeit: ernĂŒchternd, erhellend und provokant.

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Informations

Éditeur
Nomen Verlag
Année
2018
ISBN
9783939816546
Édition
1

——— Keine Stunde Null

Warum NS-Juristen straffrei ausgingen – und fast alle damit einverstanden waren

SpĂ€tsommer 1945. Aus einem Volk von Jublern war ein Volk von Stummen geworden. Aber empfanden die Deutschen, die Opfer und TĂ€ter zugleich waren und so viel Leid ĂŒber andere Völker gebracht hatten, so etwas wie Scham? Oder fĂŒhlten sie sich nur auf der Verliererseite? Konnten sie begreifen, was geschehen war, was sie mitgemacht und zugelassen hatten? Die Stunde Null sollte auch die Stunde der notwendigen »SĂ€uberung« der Deutschen werden.
Dazu trafen sich auf Schloss Cecilienhof bei Potsdam die drei Hauptalliierten und unterschrieben ein Dekret, in dem es hieß: »Alle Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer TĂ€tigkeit teilgenommen haben, 
 sind aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern zu entfernen. Diese Personen mĂŒssen durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fĂ€hig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken.  «
Ein Volk stand vor einer politischen und moralischen Reinigungsprozedur durch die SiegermĂ€chte. Und das, was die SiegermĂ€chte »Entnazifizierung« nannten, war als Vorbedingung fĂŒr eine kollektive Rehabilitierung der Deutschen konzipiert. Mit dem Dekret sollte die SĂ€uberung ehemaliger NSDAP-Mitglieder auch in geordnetere Bahnen gelenkt werden, denn schon hatte in den einzelnen Besatzungszonen auf höchst unterschiedliche Weise die Verfolgung und Erfassung frĂŒherer Nazis begonnen. Lokale »antifaschistische Komitees« verhinderten, dass ehemalige NS-FunktionĂ€re untertauchten, gelegentlich kam es sogar zu Racheakten. Daran aber hatte der »Alliierte Kontrollrat« keinerlei Interesse. Die Entnazifizierung sollte einheitlich und allein in der ZustĂ€ndigkeit des Kontrollrates durchgefĂŒhrt werden. Anfang 1946 wurde eine weitere Direktive erlassen, in der genau definiert und kategorisiert war, welche Personen aus welchen Ämtern und Stellungen entfernt werden sollten. Eine zusĂ€tzliche Verordnung im Oktober 1946 legte gemeinsame Richtlinien fĂŒr ganz Deutschland zur Bestrafung von Kriegsverbrechern sowie von Nationalsozialisten fest, die das NS-Regime gefördert und unterstĂŒtzt hatten.
Ein schwieriges Unterfangen. Wer war TĂ€ter, wer nur ein MitlĂ€ufer? Hatte nicht jeder eine Ausrede, eine ErklĂ€rung? Damit die »Potsdamer GrundsĂ€tze« auch in die Praxis umgesetzt werden konnten, einigte man sich zunĂ€chst auf fĂŒnf Gruppen zur »Heranziehung von SĂŒhnemaßnahmen«: Hauptschuldige – Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer) – Minderbelastete – MitlĂ€ufer und Entlastete (Personen, die vor Spruchkammern nachweisen konnten, dass sie unschuldig waren).
Ein Volk auf dem PrĂŒfstand. Die SiegermĂ€chte gingen in ihren Besatzungszonen nun daran, die desillusionierten Hitler-Deutschen zu »sĂ€ubern«. Ein Volk, das sich zwar als Verlierer fĂŒhlte, aber nicht unbedingt als schuldig. Mit großem Elan begannen die Amerikaner. Sie verteilten einen sechsseitigen Fragebogen, der von den Deutschen auszufĂŒllen war. Auf 131 Fragen – vom Körpergewicht ĂŒber VermögensverhĂ€ltnisse, MilitĂ€rdienst, Auslandsreisen, Vorstrafen bis hin zu religiösen Bindungen – wurden eindeutige Antworten verlangt. UnvollstĂ€ndigkeit und Auslassungen standen unter Strafe. KernstĂŒck des Fragebogens waren die Punkte 41 bis 95, unter denen wahrheitsgetreue Angaben ĂŒber die Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen gefordert wurden. Richter, StaatsanwĂ€lte und RechtsanwĂ€lte mussten zudem einen ErgĂ€nzungsbogen ausfĂŒllen, dessen erste Frage der Mitgliedschaft zum Volksgerichtshof galt. Weiterhin wurde nach Kontakten zur Gestapo, nach Art und Zahl der FĂŒhrung oder Beteiligung an Prozessen sowie nach Einzelheiten der bisherigen Justizkarriere gefragt.
Anfang Dezember 1945 waren bei den amerikanischen Dienststellen mehr als 13 Millionen Fragebogen eingegangen. Die PrĂŒfung beschrĂ€nkte sich darauf, die Angaben, wenn möglich, zu ĂŒberprĂŒfen und auf diese Weise die belastete NS-Spreu vom unbelasteten Weizen zu trennen. Die schlimmsten Nazis fielen in die Kategorie »automatischer Arrest«, andere wurden aus ihren ArbeitsverhĂ€ltnissen entfernt, harmlose MitlĂ€ufer durften ihre ArbeitsplĂ€tze und Ämter behalten.
In der französischen und der britischen Zone beschrÀnkte man sich in erster Linie darauf, die personellen Eliten des NS-Systems auszuwechseln. Es galt, die Aufrechterhaltung der Versorgung und Verwaltung nicht zu gefÀhrden, und so praktizierte man die SÀuberung nicht allzu streng. Im Vordergrund standen nicht juristische, sondern pragmatische Lösungen. In der britischen Zone beispielsweise trat neben die Bezeichnung »politisch nicht tragbar« und »politisch tragbar« die Zwischenbewertung »tragbar mit AmtsverÀnderung«. Das half, viele personelle EngpÀsse zu lösen.
Insgesamt brachten die Entnazifizierungsprozeduren vielfĂ€ltige Probleme mit sich. Einerseits verursachte die SĂ€uberung empfindlichen Personalmangel, nicht allein in den FĂŒhrungspositionen; andererseits störten beispielsweise die Internierungslager, in denen im FrĂŒhjahr 1946 weit ĂŒber 100 000 Deutsche der Kategorie »automatischer Arrest« inhaftiert waren, den Demokratisierungsanspruch der westlichen BesatzungsmĂ€chte.
Am konsequentesten wurde die SĂ€uberung ehemaliger Exponenten des NS-Regimes in der sowjetischen Besatzungszone durchgefĂŒhrt, denn hier verfolgte man im Zusammenhang mit einer grundlegenden »antifaschistisch-demokratischen« UmwĂ€lzung einen radikalen personellen Neubeginn. Freilich, auch dort rĂŒckte bereits ab 1947 der Gedanke der Rehabilitierung in den Vordergrund, vor allem, wenn es sich um einfache NSDAP-MitlĂ€ufer handelte. Die Justiz sollte sich ausfĂŒhrlich mit den Vergehen der Aktivisten beschĂ€ftigen – doch gab es noch Richter?
Bereits im September 1945 hatte die sowjetische MilitĂ€radministration den Aufbau einer demokratischen Justiz befohlen, worin ehemalige NS-Juristen keinen Platz finden sollten. Beinahe 90 Prozent des Justizpersonals wurden danach entlassen. Um das entstandene Vakuum rasch zu fĂŒllen, wurden sogenannte »Volksrichterschulen« errichtet, wo Laien in Schnellkursen die Rechtsprechung erlernten.
Weitaus laxer war in dieser Frage eine Anordnung der britischen MilitĂ€rregierung, nach der immerhin 50 Prozent der jeweils eingesetzten Richter und StaatsanwĂ€lte Mitglieder der NSDAP gewesen sein durften. Diese Klausel, damals als »Huckepack-Regelung« bezeichnet, hatte den Vorteil, dass ein Unbelasteter jeweils einen frĂŒheren Parteigenossen mit in den Justizdienst hineintragen konnte.
Insgesamt jedoch war bereits Ende 1947 das Interesse – vor allem der Alliierten – an der Entnazifizierung erkennbar erlahmt. Die SĂ€uberung von außen, in Anspielung an die NĂŒrnberger Prozesse gegen die NS-Prominenz auch »NĂŒrnberg des kleinen Mannes« genannt, war gescheitert. So wurden die Aufgaben bald den neu errichteten BundeslĂ€ndern ĂŒbertragen, die zu diesem Zweck jeweils dafĂŒr SpruchausschĂŒsse bildeten. Mit zweifelhaftem Erfolg.
Noch immer waren viele Deutsche der Meinung, der Nationalsozialismus sei im Großen und Ganzen eine gute Sache gewesen, die allenfalls schlecht durchgefĂŒhrt worden sei. Nun sollten diese Deutschen in Eigenregie ihre Entnazifizierung organisieren.
Doch alle Versuche, die anstĂ€ndigen Deutschen von den Nazis, die anstĂ€ndigen Nazis von den schlimmen Deutschen zu trennen, erwiesen sich als unmöglich. Kaum einer mochte als Belastungszeuge auftreten, an Entlastungszeugen dagegen herrschte kein Mangel. Die Deutschen fĂŒhlten sich durch die Niederlage schon genug bestraft. Schuldbewusstsein, SĂŒhnebedĂŒrfnis oder Scham hatten keinen Platz.

AnpassungsfÀhigkeit und Opportunismus

Die »wahren Schuldigen« sollten bestraft, die gutglĂ€ubigen Nazis aber – das war die vorherrschende Meinung – in Gnaden entlassen werden. So setzte sich ein Nazi-Begriff durch, der sich allein auf exponierte ParteifunktionĂ€re, auf NS-Verbrecher und KZ-Schergen reduzierte, nicht aber auf Zellenleiter und Blockwarte, auf Kassenverwalter und UnterfĂŒhrer, die alle doch nur das »Beste fĂŒr Deutschland und das deutsche Volk« gewollt hatten. Und auch die Komplizen in herausragenden Positionen, die Offiziere, die Wirtschaftsmanager, die BĂŒrokraten, die Professoren und die Juristen – sie alle fielen durch das grobe Raster der Entnazifizierung.
Diejenigen, die jetzt die gigantische Selbstreinigung vornahmen – die Vertreter der neugeschaffenen Parteien –, waren zwar unbelastet, aber ĂŒberfordert, und jene, die in den Spruch- und Berufungskammern ihren Juristenverstand bereits wieder fĂŒr die »deutsche Sache« einsetzten, einigte vor allem das BedĂŒrfnis, mit der NS-Vergangenheit endlich Schluss zu machen.
Viele Richter, geĂŒbt in AnpassungsfĂ€higkeit und Opportunismus, die jetzt mit den »Entsorgungsarbeiten« der Vergangenheit betraut waren, begriffen – wen konnte es wundern – die ihnen ĂŒbertragene SĂ€uberung ganz positivistisch vor allem als Prozedur zur Rettung der eigenen Karriere – und der ihrer Zunftkollegen.
Sie bemĂŒhten sich redlich, dass kein Kollege brotlos wurde. Wem die Unbedenklichkeit bescheinigt wurde, der zĂ€hlte nicht lĂ€nger als belastet. Wer unter Hitler grausame Strafen und Todesurteile ausgesprochen hatte, der musste nicht unbedingt ein Nationalsozialist gewesen sein. Waren sie nicht lediglich Vollstreckungsbeamte, die geltendes Gesetz angewandt hatten? Und Treue zum Gesetz konnte doch wohl niemanden zum Kriminellen machen? Diese Logik sollte in den nĂ€chsten Jahren zur eisernen RechtsĂŒberzeugung werden, wann immer – selten genug – die Rolle der NS-Justiz zu verhandeln sein sollte.
Die Formel von der bloßen PflichterfĂŒllung kursierte unter den ehemaligen NS-Juristen, hĂ€ufig mit dem Hinweis, damit Schlimmeres verhindert zu haben. Eine Rechtfertigung, die bereits im NĂŒrnberger »Juristenprozess« nicht ohne Erfolg strapaziert worden war.
Im dritten von insgesamt zwölf Prozessen, die von den Amerikanern im Lauf des Tribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher durchgefĂŒhrt wurden, hatten sich am 17. Februar 1947 sechzehn deutsche Juristen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Organisationsverbrechen zu verantworten. Die Juristen, fĂŒr die Anklagevertreter »die Verkörperung dessen, was im Dritten Reich als Justiz angesehen wurde«, standen stellvertretend fĂŒr die gesamte deutsche Justiz vor Gericht. Freilich, die exponiertesten Vertreter waren ohnehin nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen: Reichsjustizminister GĂŒrtner war bereits 1941 gestorben, sein Nachfolger Thierack hatte nach Kriegsende in einem englischen Straflager Selbstmord begangen, ebenfalls ReichsgerichtsprĂ€sident Bumke, der nach dem Einmarsch der US-Armee in Leipzig seinem Leben ein Ende setzte. Nun waren also sechzehn prominente ReprĂ€sentanten der Justiz angeklagt worden, fĂŒr die man hinreichendes Beweismaterial hatte herbeischaffen können. FĂŒr das Reichsjustizministerium standen der ehemalige StaatssekretĂ€r und zeitweilige kommissarische Justizminister Dr. Franz Schlegelberger, als ranghöchster Angeklagter, sowie die beiden StaatssekretĂ€re Curt Rothenberger und Ernst Klemm vor Gericht, außerdem der Generalstaatsanwalt GĂŒnther JoĂ«l und weitere drei Ministerialdirigenten. Zwei Angeklagte schieden wegen HaftunfĂ€higkeit und durch Selbstmord vorzeitig aus dem Verfahren aus. FĂŒr den Bereich der Staatsanwaltschaft hatten sich der frĂŒhere Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, Ernst Lautz, und Reichsanwalt Paul Barnickel zu verantworten, fĂŒr die Sondergerichte drei Vorsitzende aus NĂŒrnberg und Stuttgart, fĂŒr den Volksgerichtshof schließlich der PrĂ€sident des Vierten Senats, GĂŒnther Nebelung, sowie ein Laienrichter.
Sie alle waren exemplarische JustiztĂ€ter. Es ging in diesem Prozess ohnehin weniger darum, Einzeltaten nachzuweisen – die gleichwohl ausfĂŒhrlich zur Sprache kamen –, sondern es ging darum, zu zeigen, dass die Justiz bis zuletzt Teil und Komplize des nationalsozialistischen Terrorsystems gewesen war. Hauptanklagepunkte waren die »Justizmorde und andere GrĂ€ueltaten, die sie dadurch begingen, dass sie Recht und Gerechtigkeit in Deutschland zerstörten und dann in â€șleeren HĂŒllen der Rechtsformenâ€č zur Verfolgung, Versklavung und Ausrottung von Menschen in einem Riesenausmaß benĂŒtzten«, wie es die Anklagevertretung formulierte.
Die Beweisaufnahme fiel fĂŒr die deutsche Justiz ebenso vernichtend aus wie fĂŒr die einzelnen Angeklagten. Hier standen nicht allein fanatische Nationalsozialisten wie Freisler oder Thierack, sondern vielmehr exemplarische Vertreter des konservativen Juristenstandes vor Gericht, aber gerade diese Tatsache offenbarte die tiefe Verstrickung der Justiz mit dem braunen Terror-Regime. Sie entpuppten sich als Prototypen willfĂ€hriger Juristen, ohne die die nationalsozialistischen Machthaber nicht ĂŒberlebensfĂ€hig gewesen wĂ€ren.
Insgesamt wurden 138 Zeugen gehört, ĂŒber 2000 BeweisantrĂ€ge geprĂŒft. Nach zehnmonatiger Prozessdauer – nachdem sich das Gericht ausgiebig mit den vielfĂ€ltigen Untaten der Justiz beschĂ€ftigt hatte, den »Nacht-und-Nebel-Erlassen«, der Polenstrafrechtsverordnung, der Kooperation zwischen Justiz und SS sowie Gestapo – zog die Anklagevertretung schließlich das Fazit:
»Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße EinzelfĂ€lle von VerbrechenstatbestĂ€nden im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem ĂŒber das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsrechte und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter der AutoritĂ€t des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.«
Schlegelberger, den das Gericht eine »tragische Figur« nannte, hatte sich – wie auch die anderen Angeklagten – damit zu rechtfertigen versucht, er sei nur auf dem Posten geblieben, um Schlimmeres zu verhindern. Dies war jene absurde Rechtfertigungsthese, zu der in den nĂ€chsten Jahren noch viele NS-TĂ€ter greifen sollten.
Am 3. und 4. Dezember 1947 wurden die Urteile verkĂŒndet: Schlegelberger, Klemm und zwei weitere Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen fĂŒnf und zehn Jahren.
Milde Urteile fĂŒr SchreibtischtĂ€ter und exemplarische Mörder in Roben – ohnehin mit geringem Interesse am Vollzug: Beinahe alle Verurteilten wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Schlegelberger sollte ebenfalls bereits 1951 wieder ein freier Mann sein.
Auch wenn der NĂŒrnberger Juristenprozess einer der wenigen, vielleicht sogar der ernsthafteste Versuch war, das Justizsystem des Dritten Reiches zu erhellen und zu brandmarken, so war die strafrechtliche Ahndung des Unrechts der NS-Justiz gescheitert. Mehr noch: Das Verfahren hatte keinerlei reinigende Wirkung auf die deutsche Juristenzunft. Im Gegenteil. Viele sahen in NĂŒrnberg eine »Sieger- und Vergeltungsjustiz« am Werk und solidarisierten sich mit den Kollegen. Hatten sie denn nicht alle nur ihre Pflicht erfĂŒllt?
Die meisten dachten wie ihr Kollege, der Ex-Marinerichter und spĂ€tere MinisterprĂ€sident Hans Karl Filbinger, der aussprach, was alle ehemaligen NS-Juristen schon frĂŒhzeitig fĂŒr sich reklamierten: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.«
Ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Komplizenschaft in der Nazi-Zeit konnten die Juristen so kaum entwickeln. Die Verantwortung fĂŒr das, was geschehen war, bĂŒrdeten sie der politischen FĂŒhrung auf. Bereits 1947 lieferte der Strafrechtsprofessor Eberhard Schmidt – einer der großen juristischen Lehrer der Nachkriegszeit – auf dem Juristentag die dazu passende Entschuldigungsformel:
»Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hatte die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung fĂŒr die Folgen dĂŒrfen heute weder Rechtslehre noch Justiz beladen werden, da diese ganz allein den um jeden rechtlichen Halt gekommenen Gesetzgeber trifft.«
Neu waren diese Töne nicht. Wie seinerzeit die Weimarer Richter, die nicht der Republik, sondern dem »Staat« gedient hatten, so fĂŒhlten sich auch die ehemaligen Richter des Dritten Reiches nun nicht mehr als NS-Komplizen, nein, sie hatten angeblich allein der »Staatsidee« gedient. Dabei war keineswegs zu leugnen, dass die meisten Richter Mitglied der NSDAP gewesen waren oder aber dem NSRB, dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, angehört hatten. Doch die Entnazifizierung hatte lĂ€ngst nicht mehr Vorrang, und ein »einfacher« Parteigenosse gewesen zu sein, galt nicht mehr als Makel.
Hatte man ĂŒberhaupt eine andere Chance? Wollte nicht jeder letztlich nur in Ruhe seine richterliche Laufbahn unbehindert im Nachkriegs-Deutschland absolvieren? Hatte man nicht allein seine Pflicht getan, als Richter, Staatsanwalt, Justizbeamter? Einem Richter, der behauptete, er habe nur die StaatsrĂ€son im Auge gehabt, konnte nichts geschehen. Oder anders ausgedrĂŒckt: Ein ĂŒberzeugter Nazi konnte nach dieser Argumentation durchaus eine edle Gesinnung haben.
Selbst NS-Juristen, die sich im Hitler-Deutschland besonders eifrig hervortaten, mussten um ihre Nachkriegskarriere nicht bangen. Tausende von belasteten Richtern wurden also nicht nur verschont, sie durften wieder amtieren. So kehrten sie rasch an die Richtertische zurĂŒck, besetzten die StĂŒhle als Landgerichts- und OberlandesgerichtsprĂ€sidenten, fanden Unterschlupf in den Justizministerien. Von dieser Richtergeneration war kaum ein Beitrag zur VergangenheitsbewĂ€ltigung zu erwarten. VerstĂ€ndlich: Keine KrĂ€he hackt der anderen ein Auge aus.
Das Dilemma aus den AnfÀngen der Weimarer Republik wiederholte s...

Table des matiĂšres

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. —— Kleine Vorrede
  6. —— Die Gegenwart der Vergangenheit
  7. —— Politik ohne Gott
  8. —— Ohne Gnade
  9. —— Keine Stunde Null
  10. —— Der FĂŒhrer lebt!
  11. —— Dumme Wut, kluger Zorn
  12. —— Anmerkungen und Literatur
  13. —— Abdrucknachweis
  14. Weitere E-Books von Nomen
Normes de citation pour Dumme Wut. Kluger Zorn

APA 6 Citation

Ortner, H. (2018). Dumme Wut. Kluger Zorn (1st ed.). Nomen Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1077471/dumme-wut-kluger-zorn-anklagen-und-freisprche-pdf (Original work published 2018)

Chicago Citation

Ortner, Helmut. (2018) 2018. Dumme Wut. Kluger Zorn. 1st ed. Nomen Verlag. https://www.perlego.com/book/1077471/dumme-wut-kluger-zorn-anklagen-und-freisprche-pdf.

Harvard Citation

Ortner, H. (2018) Dumme Wut. Kluger Zorn. 1st edn. Nomen Verlag. Available at: https://www.perlego.com/book/1077471/dumme-wut-kluger-zorn-anklagen-und-freisprche-pdf (Accessed: 14 October 2022).

MLA 7 Citation

Ortner, Helmut. Dumme Wut. Kluger Zorn. 1st ed. Nomen Verlag, 2018. Web. 14 Oct. 2022.