1 Chronische Erkrankungen und Patientenedukation
Irene MĂŒller, Matthias Mertin
Das Ziel des ersten Kapitels ist es, einerseits die Bedeutung der wachsenden Anzahl chronisch kranker Menschen und die daraus resultierenden Auswirkungen auf ihr alltĂ€gliches Leben darzustellen und andererseits Möglichkeiten aufzuzeigen, die den betroffenen Menschen ein Leben mit ihrer chronischen Erkrankung mit einer möglichst hohen LebensqualitĂ€t ermöglichen sollen. Dazu werden vorerst die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die erweiterten Kompetenzen von akademisch ausgebildeten Pflegefachpersonen im Rahmen von Patientenedukation beschrieben sowie auf Konzepte, Strategien und ĂŒbergeordnete Ziele der Patientenedukation eingegangen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte haben unter anderem dazu gefĂŒhrt, dass Patientinnen und Patienten an ihren gesundheitsbezogenen Entscheidungen partizipieren wollen und ihre PrĂ€ferenzen berĂŒcksichtigt werden. Das Leben mit einer chronischen Erkrankung bedeutet unter anderem, Symptome richtig einzuschĂ€tzen und daraus resultierende Probleme zu lösen. Das Leben mit einer chronischen Erkrankung zieht unter anderem auch die korrekte Einnahme bzw. Applikation von Medikamenten nach sich und ist somit mit adhĂ€rentem Verhalten verbunden. SchlieĂlich sind diese Menschen mit grundlegenden VerĂ€nderungen in ihrem Selbstpflegeverhalten konfrontiert.
1.1 Praxisbeispiel
Der Pflegestudierende Adam N.1 befindet sich im 6. Semester seines dualen Pflegestudiums und ist aktuell auf einer internistischen Station eingesetzt. In den vergangenen Tagen hat er u. a. Frau Beier betreut, eine 57-jĂ€hrige Diabetikerin, die in den vergangenen Jahren mehrmals wegen aufgetretener HypoglykĂ€mien stationĂ€r behandelt wurde. Frau Beier hat ihm in einem GesprĂ€ch verraten, dass sie sich gern mit Freundinnen zum Kartenspielen trifft und dabei auch mal ein Glas Wein und Eierlikör trinkt. Und ein StĂŒck Kuchen gĂ€be es da auch hĂ€ufiger. WĂ€hrend einer DienstĂŒbergabe spricht Adam an, dass er von Frau Beier gehört habe, dass ihr Zielblutzucker bei ungefĂ€hr 110 mg/dl liegen soll. Im Rahmen seines Studiums habe er jedoch gelernt, dass nach aktuellen Erkenntnissen zu niedrige Blutzuckerzielgrenzen die Gefahr von HypoglykĂ€mien erhöhen. Seiner Meinung nach mĂŒsse die Patientin im Hinblick auf das Blutzuckermanagement beraten werden. Daraufhin meldet sich eine Kollegin zu Wort und weist Adam Nowak darauf hin, dass fĂŒr die Beratung der Diabetes-Patienten die StationsĂ€rztin zustĂ€ndig sei.
Als er wieder in einer Theorie-Phase in der Hochschule ist, spricht er dies bei seinen Mitstudierenden an, da er selbst bisher der Meinung war, dass Patientenedukation ein wichtiger Teil der professionellen Pflege sei. Unter seinen Mitstudierenden sehen das jedoch nicht alle so. Einige meinen, dass kleinere BeratungstĂ€tigkeiten durchaus von Fachpflegepersonen ĂŒbernommen werden könnten, aber so etwas wie Patientenschulungen sei dann doch eher die Aufgabe von Ărztinnen und Ărzten.
1.2 Edukative Interventionen
Erhöhter Bedarf an edukativen UnterstĂŒtzungsmaĂnahmen
Edukative AktivitĂ€ten und Interventionen gelten schon seit lĂ€ngerer Zeit als zentrale Bestandteile einer professionellen Pflegepraxis. Bereits mit der EinfĂŒhrung des Krankenpflegegesetzes im Jahr 2003 wurden neue Anforderungen an die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege formuliert, in denen der Beratung und Anleitung von Patientinnen und Patienten ein besonderer Stellenwert zukam (Hummel-Gaatz & Doll 2007). Mit der EinfĂŒhrung des Pflegeberufereformgesetzes im Jahr 2017 wurden edukative Aufgaben von Pflegefachpersonen noch einmal deutlich betont. Der Grund hierfĂŒr liegt auch darin, dass im gesamten nationalen Gesundheitswesen ein erhöhter Bedarf an edukativen UnterstĂŒtzungsmaĂnahmen zu verzeichnen ist (Sunder & SegmĂŒller 2017). Dies ist einerseits durch gesundheitspolitisch initiierte, aber auch durch demographisch-epidemiologische VerĂ€nderungen bedingt, wofĂŒr eine Reihe von Ursachen verantwortlich ist:
Anstieg chronischer Erkrankungen
âą Als ein Hauptgrund dafĂŒr gilt, dass sich die gesundheitliche Problemlage der Bevölkerung durch einen Anstieg chronischer Erkrankungen verĂ€ndert hat, wobei nicht nur insgesamt eine Zunahme chronischer Erkrankungen zu verzeichnen ist, sondern auch eine VerlĂ€ngerung der jeweiligen Verlaufsdauer (Schaeffer & Schmidt-Kaehler 2012). Aufgrund der demographischen Alterung nimmt der Anteil jĂŒngerer Menschen in der Gesellschaft ab, wĂ€hrend die Anzahl der Ă€lteren Menschen steigt. Aktuelle Prognosen des Statistischen Bundesamtes sagen einen Anstieg des Anteils der Bevölkerung im Alter von â„ 60 Jahren von 2013 bis 2030 von 27 % auf 35 % voraus (Robert Koch-Institut 2015). Aufgrund der demographischen Alterung steigt auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von chronischen Krankheiten und BeeintrĂ€chtigungen (Schaeffer & Schmidt-Kaehler 2012). Der Versorgungsbedarf von Menschen mit chronischen Erkrankungen unterscheidet sich dabei wesentlich von dem Versorgungsbedarf akut erkrankter Menschen. WĂ€hrend bei Akutkrankheiten die Heilung im Vordergrund steht, ist es das Hauptziel bei chronischen Erkrankungen, das Fortschreiten der Erkrankung zu begrenzen, RĂŒckfĂ€lle zu vermeiden und das Selbstmanagement zu fördern (Giger & de Geest 2008). Dies bedeutet, dass chronische Erkrankungen einen erhöhten Selbstpflege-, Informations-, Schulungs- und Beratungsbedarf mit sich bringen (Jurkowitsch 2016).
Unzureichende BerĂŒcksichtigung von BedĂŒrfnissen
âą Zugleich ist das auf Akutversorgung ausgerichtete Versorgungssystem nicht adĂ€quat auf diese Erfordernisse eingestellt. Laut Giger und de Geest (2008) werden weder die psychosozialen BedĂŒrfnisse der Patientinnen und Patienten noch die Rolle von An- und Zugehörigen angemessen berĂŒcksichtigt. Dies hat sich zudem durch einen chronischen Pflegemangel im Krankenhaus verschĂ€rft (Isfort & Weidner 2010). In den vergangenen 20 Jahren lĂ€sst sich eine kontinuierliche Zunahme der behandelten Patientinnen und Patienten in allgemeinen KrankenhĂ€usern und zugleich eine deutliche VerkĂŒrzung der Verweildauern von 10,8 im Jahr 1996 auf 7,3 Tage im Jahr 2016 verzeichnen (Statistisches Bundesamt 2018). Dies lĂ€sst sich auf den Reform- und Kostendruck im Gesundheitswesen und in Folge dessen auf die EinfĂŒhrung des Abrechnungssystems mit Diagnosis Related Groups (DRGs) zurĂŒckfĂŒhren (Hummel-Gaatz & Doll 2007).
StÀrkung der Patientenrechte
âą Zudem lĂ€sst sich seit einigen Jahren beobachten, dass gesellschaftspolitisch eine StĂ€rkung der Patientinnen und Patienten und ihrer Rechte diskutiert wird (Hummel-Gaatz & Doll 2007). WĂ€hrend in der Vergangenheit Patientinnen und Patienten zu einseitig als Objekte der FĂŒrsorge und als passive LeistungsempfĂ€nger betrachtet wurden, wird zunehmend angestrebt, sie aktiv an der Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu beteiligen (Schaeffer & Schmidt-Kaehler 2012).
StÀrkung und Förderung des Selbstmanagements
Edukative MaĂnahmen, mit denen den Bedarfen der Nutzerinnen und Nutzer entsprochen werden können, werden in Deutschland unter dem Begriff der Patientenedukation subsummiert. Laut Schaeffer und Petermann (2011) hat die Patientenedukation in allen Bereichen des Gesundheitswesens, vor allem in der Versorgung chronisch Kranker, an Bedeutung gewonnen. Ihnen zufolge handelt es sich bei Patientenedukation um systematisch vermittelte Strategien, die darauf ausgerichtet sind, den betroffenen Erkrankten notwendiges krankheits- und behandlungsbezogenes Wissen zu vermitteln und ihre Partizipation am Behandlungsprozess zu erhöhen. Das sich hieraus ergebende ĂŒbergeordnete Ziel aller edukativen Interventionen ist die StĂ€rkung und Förderung des Selbstmanagements.
WĂ€hrend in der Vergangenheit EdukationsmaĂnahmen noch stark arztzentriert ausgerichtet waren, zielen moderne Konzepte darauf ab, die Patientinnen und Patienten in ihrem Krankheitsmanagement zu unterstĂŒtzen und dadurch die Selbststeuerung und Selbstbestimmung zu fördern. Edukative Interventionen sind somit nicht mehr allein die Aufgabe von Ărztinnen und Ărzten, sondern werden zunehmend auch von weiteren Gesundheitsberufen angeboten und durchgefĂŒhrt. PflegefachkrĂ€ften kommt dabei aufgrund ihrer NĂ€he zu den Patientinnen und Patienten eine SchlĂŒsselrolle zu. Laut Schaeffer und Petermann (ebda.) lassen sich edukative Interventionen grob in insgesamt vier Strategien unterteilen:
âą Die Förderung der Health Literacy zielt darauf ab, Patientinnen und Patienten dazu zu befĂ€higen, sich selbst relevante Gesundheitsinformationen verschaffen zu können, sich diese zu erschlieĂen, sie zu bewerten und fĂŒr ihr eigenes Handeln nutzbar zu machen. FĂŒr die Förderung der Health Literacy steht mittlerweile ein umfangreiches Instrumentarium zur VerfĂŒgung, welches auch von Pflegepersonen in BeratungsgesprĂ€chen angewendet werden sollte.
âą Strukturi...