TEIL IV
Spezifische klinische Leiden
18. »Wonach siehtâs denn aus?«1 Demenz â ein gestalttherapeutischer Ansatz
Frans Meulmeester
Demenz
ist
am Ende deines Lebens
wenn du mit der Vergangenheit umgehst.
Um jetzt zu bekÀmpfen,
was du damals nicht bekÀmpft hat.
Um jetzt das herauszuschreien,
was du damals nicht herausgeschrien hast.
Um jetzt das auszusprechen,
was du damals nicht ausgesprochen hast.
Ein einziges groĂes Psychodrama, mit dir in der Hauptrolle.
1. Einleitung
In einer traditionellen, streng nach medizinischen Kriterien ausgerichteten Kultur können wir eine deutliche Linie oder Grenze ziehen zwischen den gesunden Menschen (das sind natĂŒrlich wir!) und den kranken Menschen (das sind natĂŒrlich die anderen, die PatientInnen). Vor allem bei der Behandlung von Menschen mit psychologischen, psychiatrischen oder psychogeriatrischen Problemen sorgen wir dafĂŒr, dass diese Grenze klar zu erkennen und nur schwer zu ĂŒberschreiten ist. Verhalten, das wir nicht verstehen, wird als »gestörtes Verhalten« bezeichnet und als Teil einer Pathologie betrachtet, wĂ€hrend mögliche bedeutsame Motive, die diesem Verhalten zugrunde liegen, und mögliche EinflĂŒsse unserer Interaktion mit dem betroffenen Menschen keine Beachtung finden.
In vielen Bereichen des modernen Gesundheitswesens hat sich dieses Paradigma verÀndert. Doch bei der Pflege Àlterer Menschen mit psychogeriatrischen oder gerontopsychiatrischen Problemen ist es immer noch weit verbreitet.
Aus diesem Grund möchte ich eine andere, sehr viel menschenbezogenere Perspektive zu dieser Gruppe von Menschen prĂ€sentieren, die auf einem gestalttherapeutischen Ansatz basiert. Im Kontext dieses Kapitels werde ich mich ausschlieĂlich auf die Betrachtung von Menschen mit Demenz und den Zugang zu ihnen beschrĂ€nken. Ich hoffe, dass die LeserIn diesen Ansatz auf andere Gruppen ĂŒbertragen kann, z. B. auf alte Menschen mit gerontopsychiatrischen Problemen oder geistigen Behinderungen.
2. Demenz: eine furchtbare Diagnose
Die Diagnose »Demenz« ist natĂŒrlich eine furchtbare Diagnose. ZunĂ€chst fĂŒr den betroffenen Menschen selbst, obwohl er vielleicht nichts von der Diagnose weiĂ, aus dem einfachen Grund, dass sie ihm niemand mitteilt.2 Doch in den meisten FĂ€llen ist sich der betroffene Mensch bewusst, dass etwas mit ihm passiert, doch er weiĂ oder versteht nicht immer, was es ist. Ich werde spĂ€ter noch darauf zu sprechen kommen.
Zweitens handelt es sich um eine furchtbare Diagnose fĂŒr die PartnerIn und/oder die Kinder. Wie bei den meisten schweren chronischen Krankheiten ist es nicht nur die PatientIn, die leidet: Die gesamte Familie leidet. TatsĂ€chlich verlieren diese Menschen auf gewisse Weise ihre PartnerIn oder ihre(n) Vater/Mutter, wĂ€hrend der Mensch gleichzeitig noch da ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Buch von Susan Roos hinweisen, in dem sie sich mit dem Konzept der »Chronischen Trauer« auseinandersetzt: dem Trauerprozess, den Menschen durchleben, wenn sie oder ihre PartnerIn an einer chronischen Erkrankung oder Behinderung leiden (Roos 2002).
Die Diagnose »Demenz« ist aus einem weiteren Grund furchtbar, nĂ€mlich aufgrund der Bedeutung des Wortes »Demenz«. Ăbersetzt bedeutet es »ohne Geist«. Mit anderen Worten: Er sagt aus, dass ein Mensch, der an dieser Erkrankung leidet, den Verstand verliert, und das heiĂt, dass das, was er sagt oder tut, keinen Sinn mehr ergibt. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn dieser Gedanke allen Interaktionen zugrunde liegt und wenn die Menschen von vornherein unterstellen, dass alles, was man tut, keinen Sinn ergibt und keine rationale Bedeutung hat?
Daher ist es nicht so verwunderlich, dass viele Menschen mit Demenz das GefĂŒhl haben, dass sie niemand mehr ernst nimmt. Manche werden aus diesem Grund aggressiv: Sie sind unfĂ€hig, sich anderen mitzuteilen.
FrĂŒher haben wir Wörter wie »Idiot«, »Schwachsinniger« und »Geistesschwacher« verwendet, um geistige Behinderungen in ihren unterschiedlichen AusprĂ€gungen zu beschreiben. Wir wissen alle, dass diese Worte mittlerweile als Schimpfworte gelten und dass niemand mehr sie verwendet, wenn er von diesen Menschen spricht. Wir können nur hoffen, dass in ein paar Jahren auch niemand mehr das Wort »dement« verwendet, sondern die Betroffenen als verwirrt oder desorientiert3 bezeichnet.
3. Der Prozess der Demenz: drei Phasen
Ich beschreibe den Prozess der Demenz in drei Phasen: Anfang, Mitte und Ende. Doch wenn ich von der »Endphase« spreche, meine ich damit nicht das Lebensende, sondern vielmehr eine dritte Phase, die bis ans Lebensende dauern kann, auch wenn bis dahin noch fĂŒnf oder zehn Jahre vergehen können. Es ist schwer zu sagen, wie schnell diese Phasen aufeinander folgen und wie schnell sich ein Mensch von einem völlig funktionierenden Individuum in einen Menschen verwandeln wird, der vollkommen in sich gekehrt und durch verbale oder non-verbale Kommunikation kaum zu erreichen ist.
Ein wichtiger Faktor ist natĂŒrlich der Verfall des Gehirns, doch wir mĂŒssen hier zwischen den unterschiedlichen Typen der Demenz unterscheiden. Fortschreitende SchĂ€digung oder Verfall des Gehirns ist bei einer Multiinfarkt- oder VaskulĂ€ren Demenz und bei der Alzheimer-Erkrankung bei einem frĂŒhen Ausbruch der Krankheit zu verzeichnen. Dem gegenĂŒber steht der Demenztypus, bei dem die Verbindung zwischen dem Verfall des Gehirns und dem Fortschreiten der Demenz nicht so deutlich ist, wie bei der Altersdemenz. Bei dieser Demenz liegt nicht immer eine SchĂ€digung oder VerĂ€nderung der Hirnstruktur vor, und daher weiĂ man noch nicht genau, was der Auslöser fĂŒr diese Form der Demenz ist. Allerdings werde ich auf diese Frage an diesem Punkt nicht nĂ€her eingehen, weil noch so vieles im Unklaren ist und weil es den Rahmen des Kapitels sprengen wĂŒrde.4
In diesem Kapitel werde ich beschreiben, wie betroffene Menschen ihre Welt wahrnehmen und wie sich ihre grundlegenden BedĂŒrfnisse in diese drei Phasen einteilen lassen. Mein Wissen beruht auf meiner 30-jĂ€hrigen Erfahrung mit diesen Menschen und natĂŒrlich aus der Literatur und den Diskussionen mit KollegInnen (Brooker 2006; Feil 1993, 1994; Kitwood 1997; Miesen 1992a, 1992b; Weichselbraun 2009).
Im Anschluss an die ErlĂ€uterungen zu den einzelnen Phasen möchte ich auch beschreiben, wie wir als GestalttherapeutInnen oder -beraterInnen den Menschen und sein Umfeld unterstĂŒtzen können.
3.1 Erste Phase: Ich weiĂ, dass ich nichts weiĂ, und das macht mich betroffen
Die erste Phase ist durch die Tatsache gekennzeichnet, dass der Mensch bemerkt, dass ihm manchmal entfĂ€llt, was er gerade macht, dass er wichtige Aspekte seines Alltagslebens vergisst oder dass er Fehler macht, an die er sich danach nicht mehr erinnern kann. Er wird durch seine PartnerIn oder seine Pflegeperson mit diesen Fehlern konfrontiert, was natĂŒrlich leicht zu Konflikten mit dieser PartnerIn oder Pflegeperson fĂŒhrt. Bekannte Beispiele sind: wĂ€hrend eines GesprĂ€chs den Faden verlieren, vergessen, wo sich Dinge befinden, Verabredungen vergessen, Dinge an seltsamen Orten deponieren (z. B. den Wasserkocher im KĂŒhlschrank oder Lebensmittel unter der Matratze). Zu den schwerwiegenderen Anzeichen gehören: vergessen, wichtige Medikamente einzunehmen, das Gas nach dem Kochen abzudrehen, oder â noch schlimmer â vergessen, den Ofen anzumachen, nachdem das Gas aufgedreht wurde.
Zu Anfang sind diese Fehler so geringfĂŒgig und irrelevant, dass jeder sie machen könnte. Vielleicht bemerkt sie nur der betroffene Mensch selbst und erklĂ€rt sie sich als mangelnde Konzentration oder MĂŒdigkeit. Doch wenn die Fehler sich mehren, fangen auch andere an, sie zu bemerken. Die PartnerIn oder die Kinder kritisieren und verbessern den Menschen möglicherweise, was dazu fĂŒhrt, dass er sich dessen mehr bewusst wird und beginnt, immer unsicherer zu werden.
Aus diesem Grund heiĂt diese Phase auch die Phase des »bedrohten Ich«. Der Mensch fĂŒhlt sich von dem, was mit ihm passiert, bedroht. Er weiĂ, dass er manches Mal nichts (mehr) weiĂ, und das macht ihn unsicher, lĂ€sst ihn an sich selbst zweifeln und macht ihm Angst. Wir können diesen Zustand als schwere IdentitĂ€tskrise betrachten.
»Können Sie mir sagen, was mit mir passiert? Manchmal weià ich, was ich gerade mache, und dann plötzlich weià ich nicht mehr, wo ich bin und was vor sich geht. Es ist wie bei einem Schalter, den jemand umlegt.«
»Bitte, können Sie mir sagen, was passiert? Es ist, als hĂ€tte ich ein Loch im Kopf. Als wĂŒrde mein Kopf leer. Verliere ich den Verstand?«
In dieser Phase lassen sich jene Menschen, die nur bemerken, dass etwas nicht stimmt, und jene, die dies nicht nur bemerken, sondern auch Bescheid wissen und sich dessen bewusst sind, klar voneinander unterscheiden. Es handelt sich um den Unterschied zwischen der Phase der »Empfindung« und der Phase der »Bewusstheit« im Zyklus des Erlebens. FĂŒr jene, die es nur bemerken, bedeutet das, dass sie unsicher werden, zweifeln und sich fragen, was los ist; fĂŒr jene, die sich dessen bewusst sind, bedeutet es, dass sie wissen, womit sie es zu tun haben. Manche von ihnen wissen auch ganz gut, wie ihre Zukunft möglicherweise aussehen wird. Sie fĂŒrchten sich vor einer schrecklichen Zukunft.
»Können Sie mir bitte sagen, ob ich dement werde? Meiner Mutter ist dasselbe passiert, und jetzt habe ich den Eindruck, dass es mir auch passiert.«
»Hören Sie, Sie mĂŒssen mich nicht anlĂŒgen. Ich weiĂ genau, was mit mir nicht stimmt. Ich war Arzt, wissen Sie, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich an Alzheimer erkrankt bin. Habe ich recht?«
Gleichzeitig haben die Menschen in der Umgebung des/der Betroffenen dieselben Fragen und Sorgen, und auch bei ihnen können wir diese Unterscheidung treffen.
Zuerst sind jene Menschen, die nicht wissen, was vor sich geht, durch die Fehler, die der/die Betroffene macht, wahrscheinlich ziemlich irritiert, und interpretieren sie möglicherweise als einen Mangel an Konzentration oder Interesse und manchmal sogar als einen Mangel an gutem Willen. Dies fĂŒhrt oft zu MissverstĂ€ndnissen und schmerzhaften Konflikten in der Beziehung. SpĂ€ter, wenn diese PartnerIn oder diese Kinder die Diagnose erfahren und verstehen, was vor sich geht, empfinden sie Scham oder Schuld darĂŒber, wie sie ihre PartnerIn oder ihre(n) Vater/Mutter behandelt haben.
Vor jenen, die begreifen, was los ist, liegt ein langer und schmerzhafter Weg der Trauer und der Verarbeitung. Ein Weg voller schmerzvoller Konfrontationen, ein zunehmender Kontaktverlust, ein zunehmendes BedĂŒrfnis, Verantwortung zu ĂŒbernehmen und am Ende ein totaler Rollentausch, in dem die PartnerIn oder die Kinder zum »Elternteil« des völlig abhĂ€ngigen Menschen werden. Die Angst, dass diese Situation eintritt, ist natĂŒrlich bei allen Beteiligten prĂ€sent.5
3.1.1 Die Figur-Grund-Formation
Lassen Sie uns auf den von Demenz betroffenen Menschen zurĂŒckkommen. In dieser Phase, in der der Mensch noch ein klares Bewusstsein fĂŒr seine vergangene und gegenwĂ€rtige Situation hat, wird die Angst davor, »den Verstand zu verlieren«, mehr und mehr zur Figur vor einem Hintergrund einer klaren Lebensgeschichte. Daher versuchen manche Menschen, alte, nicht abgeschlossene Erfahrungen zu lösen und abzuschlieĂen. Sie mĂŒssen mit Erinnerungen und mit GefĂŒhlen der Traurigkeit oder Scham und Schuld fertig werden.
Jemand hat mich tatsĂ€chlich gefragt: »Wissen Sie, wie ich wieder mit meiner Ex-Frau in Kontakt treten kann, denn ich wĂŒrde ihr gerne sagen, wie leid es mir tut, was ich ihr angetan habe.«
Und sehr oft wird hinzugefĂŒgt: »Jetzt kann ich das noch, aber ich fĂŒrchte, dass ich bald nicht mehr dazu in der Lage sein werde.«
Dies macht deutlich, dass der Mensch begreift, dass er sein GedÀchtnis und andere FÀhigkeiten verliert und dass sich sein Leben in den nÀchsten Monaten oder Jahren dadurch dramatisch und unwiderruflich verÀndern wird.
Allgemein kann man sagen, dass die Menschen mit derselben Art der kreativen Anpassung oder demselben Kontaktstil auf die Krise reagieren werden, die sie schon ihr ganzes Leben lang verwendet haben. Manche versuchen, die Krise zu verarbeiten, indem sie sich mit ihrer RealitĂ€t und allen damit verbundenen GefĂŒhlen wie Traurigkeit, Angst und Wut konfrontieren und sie ihrer Umgebung mitteilen, wĂ€hrend andere sie durch Deflexion, Projektion oder Retroflexion verarbeiten.
Es gibt natĂŒrlich noch viel mehr Möglichkeiten, doch ich beschrĂ€nke mich in meiner Beschreibung auf diese drei Stile oder Reaktionen:
1) Deflexion oder Fluchtreaktion
Wenn ein Mensch dazu neigt zu deflektieren oder zu flĂŒchten, wird er das Problem herunterspielen und versuchen, eine Konfrontation zu vermeiden. Wenn es dann zu einer Konfrontation kommt, wird er nach ErklĂ€rungen und anderen Geschichten suchen, um eine Fassade aufzubauen und seine Fehler oder GedĂ€chtnislĂŒcken zu verstecken. Das nennt sich »konfabulieren«.
Auf die Frage »Wie viele Kinder haben Sie, Herr S.?« antwortete der Mann: »Na ja, wir hatten einige. Wir hatten immer viel SpaĂ. Meine Frau ist mit ihnen auf den Spielplatz gegangen und spĂ€ter hab ich darauf bestanden, dass sie studieren, weil das wichtig ist.«
Wenn man einen Menschen und seine Geschichte nicht kennt, ist es daher sehr schwierig einzuschĂ€tzen, was er wirklich weiĂ oder was er nur erfindet. FĂŒr die PartnerIn ist das manchmal sehr peinlich: Wenn sie um Hilfe ruft, errichtet der Mann in dem Moment, in dem die PsychologIn oder die Pflegekraft hereinkommt, seine Fassade und alles scheint in Ordnung zu sein. NatĂŒrlich macht der Mensch das nicht absichtlich, doch es kann ein seltsames Bild von der Situation abgeben.
2) Projektion oder Kampfreaktion
Dabei handelt es sich um eine Reaktion, mit der man nur schwer umgehen kann, besonders die PartnerIn und die Kinder. Anstatt seine Fehler zu leugnen oder sie zu verstecken, neigt dieser Mensch dazu, alle Fehler auf die anderen zu projizieren und sie dafĂŒr zu beschuldigen. Sein erster Impuls ist, den anderen wegzustoĂen oder das zu bekĂ€mpfen, was man ihm sagt.
Wenn jemand einen solchen Menschen fragt, wie viele Kinder er hat, hat er gute Chancen, folgende Antwort zu bekommen: »Wieso wollen Sie das wissen? Das geht Sie nichts an!«
Wenn dieser Mensch seine Uhr oder seine Brieftasche nicht finden kann, ist fĂŒr ihn völlig klar: Die wurde gestohlen! Einem solchen Menschen helfen zu wollen, ist nicht leicht.
»Was glauben Sie denn??? Ich brauche keine Hilfe. Ich kann das alles alleine. Gehen Sie und nerven Sie Ihre Mutter!«
Es verlangt viel Geduld und KreativitĂ€t, den richtigen Weg zu finden und Konflikte zu vermeiden. Ich habe immer groĂen Respekt und Bewunderung fĂŒr PartnerInnen und PflegekrĂ€fte, die sich aus dem Streit heraushalten und den Menschen zur Kooperation »verfĂŒhren« können.
Wie ich bereits geschrieben habe, brauchen diese PartnerInnen viel UnterstĂŒtzung, teils rein praktischer Natur, teils damit sie etwas freie Zeit zur Entspannung haben, aber vor allem brauchen sie viel VerstĂ€ndnis und emotionale UnterstĂŒtzung.
In den Selbsthilfegruppen fĂŒr PartnerInnen und Kinder geht es meist um GefĂŒhle der Ohnmacht, Traurigkeit, Scham, Schuld usw. Doch es gibt auch das GefĂŒhl des Ărgers, manchmal sogar der Wut auf den betroffenen Menschen. Die Angehörigen schĂ€men sich natĂŒrlich dieses Ărgers und dieser Wut und es ist fĂŒr sie eine groĂe Erleichterung, wenn sie diese GefĂŒhle ausdrĂŒcken können und sich von den anderen akzeptiert und verstanden fĂŒhlen. Manchmal, wenn ich das GefĂŒhl habe, dass Ărger und Wut implizit bleiben, mache ich sie explizit und sage: »Ich kann mir vorstellen, dass manche von Ihnen Ihren Vater/Ehemann manchmal am liebsten umbringen wĂŒrden. Habe ich recht?«
NatĂŒrlich schĂ€men sie sich, doch gleichzeitig sind sie sehr froh und erleichtert, dass ich es ausspreche und dass wir darĂŒber reden können.
3) Retroflexion oder »Freeze«-Reaktion
Mit Retroflexion meine ich hier, dass die erste Tendenz immer ist, die Schuld auf sich zu nehmen und deprimiert ĂŒber alles zu sein, was schief lĂ€uft. Die Betroffenen fĂŒhlen sich unsicher und traurig, weil sie sich selbst und ihre Welt nicht mehr verstehen, und suchen die Schuld dafĂŒr bei sich selbst. In diesen FĂ€llen war meist die Tendenz zur Retroflexion und das Abgleiten in die Hilflosigkeit die ĂŒbliche kreative Anpassung wĂ€hrend des gesamten Lebens. Vielleicht waren sie daran gewöhnt, eine Mutterfigur um sich zu haben, und jetzt, wo sie sich in ihrer Welt so verloren fĂŒhlen, sind sie permanent auf der Suche nach solch einer Mutterfigur.
Wenn wir einen solchen Menschen nach seinen Kindern fragen, bekommen wir âșTrĂ€nenâč zur Antwort: »Ich weiĂ es nicht mehr und ich weiĂ nicht, wo meine Kinder sind, und niemand ist hier, um mir zu helfen. Kann ich heute mit Ihnen mitkommen? Darf ich bei Ihnen schlafen? Bitte, helfen Sie mir!«
Der schwierigste Aspekt fĂŒr eine PartnerIn oder fĂŒr die Kinder und spĂ€ter auch fĂŒr die PflegekrĂ€fte, ist, dass ein solcher Mensch immer Ansprache braucht, er lĂ€sst einem keine Zeit zum Atmen. Diese AnsprĂŒche können einem wirklich auf die Nerven gehen und verlangen wiederum viel Geduld von der Pflegeperson.
Obwohl Unsicherheit und Angst nicht bei jeder Art der Reaktion offensichtlich sind, sind sie die hauptsĂ€chlichen AntriebskrĂ€fte in dieser Phase des Lebens. Daher versucht der betroffene Mensch auch, sich als UnterstĂŒtzung an die RealitĂ€t zu klammern. Er wird nach Fakten fragen, weil diese Informationen fĂŒr ihn wie ein Strohhalm sind, an dem er sich festhalten kann. Wenn dieser Mensch sehr unsicher ist, stellt er wieder und wieder dieselb...