Gestalttherapie in der klinischen Praxis
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Gestalttherapie in der klinischen Praxis

Ein internationales Handbuch

Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal, Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal

  1. 820 pagine
  2. German
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  4. Disponibile su iOS e Android
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Gestalttherapie in der klinischen Praxis

Ein internationales Handbuch

Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal, Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal

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Das Handbuch stellt in mehrfacher Hinsicht ein Novum in der gestalttherapeutischen Literatur dar. Er vereinigt zum ersten Mal Spezialisten unterschiedlicher Generationen aus mehr als 20 Ländern, die den aktuellen Stand der internationalen Forschung repräsentieren und zahlreiche bisher bestehende Desiderate aus der Gestalttherapie füllen. Grundlegende theoretische Prinzipien für die klinische Praxis, besondere Sichtweisen, Therapie in bestimmten Lebenssituationen und klinische Anwendungen bei spezifischen Leidensformen werden in 33 Artikeln dargestellt, die jeweils durch den Kommentar eine anderen Autors ergänzt werden.Außerdem wird hier zum ersten Mal konsequent das Thema der Psychopathologie aus einer gestalttherapeutischen und beziehungsorientierten Perspektive betrachtet. Das Handbuch formuliert eine spezifisch gestalttherapeutische Sicht auf das Verständnis von Psychopathologie: Psychopathologie als ko-kreiertes Feldphänomen, das an der Kontaktgrenze entsteht und das im Kontaktprozess verwandelt werden kann.Die deutsche Version dieses internationalen Projekts ist speziell auf die Situation, die Forschung und die Literatur im deutschsprachigen Raum bearbeitet und ergänzt worden.

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Informazioni

Anno
2016
ISBN
9783897975903
Argomento
Psychology

TEIL IV

Spezifische klinische Leiden

18. »Wonach sieht’s denn aus?«1 Demenz – ein gestalttherapeutischer Ansatz

Frans Meulmeester

Demenz
ist
am Ende deines Lebens
wenn du mit der Vergangenheit umgehst.
Um jetzt zu bekämpfen,
was du damals nicht bekämpft hat.
Um jetzt das herauszuschreien,
was du damals nicht herausgeschrien hast.
Um jetzt das auszusprechen,
was du damals nicht ausgesprochen hast.
Ein einziges großes Psychodrama, mit dir in der Hauptrolle.

1. Einleitung

In einer traditionellen, streng nach medizinischen Kriterien ausgerichteten Kultur können wir eine deutliche Linie oder Grenze ziehen zwischen den gesunden Menschen (das sind natürlich wir!) und den kranken Menschen (das sind natürlich die anderen, die PatientInnen). Vor allem bei der Behandlung von Menschen mit psychologischen, psychiatrischen oder psychogeriatrischen Problemen sorgen wir dafür, dass diese Grenze klar zu erkennen und nur schwer zu überschreiten ist. Verhalten, das wir nicht verstehen, wird als »gestörtes Verhalten« bezeichnet und als Teil einer Pathologie betrachtet, während mögliche bedeutsame Motive, die diesem Verhalten zugrunde liegen, und mögliche Einflüsse unserer Interaktion mit dem betroffenen Menschen keine Beachtung finden.
In vielen Bereichen des modernen Gesundheitswesens hat sich dieses Paradigma verändert. Doch bei der Pflege älterer Menschen mit psychogeriatrischen oder gerontopsychiatrischen Problemen ist es immer noch weit verbreitet.
Aus diesem Grund möchte ich eine andere, sehr viel menschenbezogenere Perspektive zu dieser Gruppe von Menschen präsentieren, die auf einem gestalttherapeutischen Ansatz basiert. Im Kontext dieses Kapitels werde ich mich ausschließlich auf die Betrachtung von Menschen mit Demenz und den Zugang zu ihnen beschränken. Ich hoffe, dass die LeserIn diesen Ansatz auf andere Gruppen übertragen kann, z. B. auf alte Menschen mit gerontopsychiatrischen Problemen oder geistigen Behinderungen.

2. Demenz: eine furchtbare Diagnose

Die Diagnose »Demenz« ist natürlich eine furchtbare Diagnose. Zunächst für den betroffenen Menschen selbst, obwohl er vielleicht nichts von der Diagnose weiß, aus dem einfachen Grund, dass sie ihm niemand mitteilt.2 Doch in den meisten Fällen ist sich der betroffene Mensch bewusst, dass etwas mit ihm passiert, doch er weiß oder versteht nicht immer, was es ist. Ich werde später noch darauf zu sprechen kommen.
Zweitens handelt es sich um eine furchtbare Diagnose für die PartnerIn und/oder die Kinder. Wie bei den meisten schweren chronischen Krankheiten ist es nicht nur die PatientIn, die leidet: Die gesamte Familie leidet. Tatsächlich verlieren diese Menschen auf gewisse Weise ihre PartnerIn oder ihre(n) Vater/Mutter, während der Mensch gleichzeitig noch da ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Buch von Susan Roos hinweisen, in dem sie sich mit dem Konzept der »Chronischen Trauer« auseinandersetzt: dem Trauerprozess, den Menschen durchleben, wenn sie oder ihre PartnerIn an einer chronischen Erkrankung oder Behinderung leiden (Roos 2002).
Die Diagnose »Demenz« ist aus einem weiteren Grund furchtbar, nämlich aufgrund der Bedeutung des Wortes »Demenz«. Übersetzt bedeutet es »ohne Geist«. Mit anderen Worten: Er sagt aus, dass ein Mensch, der an dieser Erkrankung leidet, den Verstand verliert, und das heißt, dass das, was er sagt oder tut, keinen Sinn mehr ergibt. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn dieser Gedanke allen Interaktionen zugrunde liegt und wenn die Menschen von vornherein unterstellen, dass alles, was man tut, keinen Sinn ergibt und keine rationale Bedeutung hat?
Daher ist es nicht so verwunderlich, dass viele Menschen mit Demenz das Gefühl haben, dass sie niemand mehr ernst nimmt. Manche werden aus diesem Grund aggressiv: Sie sind unfähig, sich anderen mitzuteilen.
Früher haben wir Wörter wie »Idiot«, »Schwachsinniger« und »Geistesschwacher« verwendet, um geistige Behinderungen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu beschreiben. Wir wissen alle, dass diese Worte mittlerweile als Schimpfworte gelten und dass niemand mehr sie verwendet, wenn er von diesen Menschen spricht. Wir können nur hoffen, dass in ein paar Jahren auch niemand mehr das Wort »dement« verwendet, sondern die Betroffenen als verwirrt oder desorientiert3 bezeichnet.

3. Der Prozess der Demenz: drei Phasen

Ich beschreibe den Prozess der Demenz in drei Phasen: Anfang, Mitte und Ende. Doch wenn ich von der »Endphase« spreche, meine ich damit nicht das Lebensende, sondern vielmehr eine dritte Phase, die bis ans Lebensende dauern kann, auch wenn bis dahin noch fünf oder zehn Jahre vergehen können. Es ist schwer zu sagen, wie schnell diese Phasen aufeinander folgen und wie schnell sich ein Mensch von einem völlig funktionierenden Individuum in einen Menschen verwandeln wird, der vollkommen in sich gekehrt und durch verbale oder non-verbale Kommunikation kaum zu erreichen ist.
Ein wichtiger Faktor ist natürlich der Verfall des Gehirns, doch wir müssen hier zwischen den unterschiedlichen Typen der Demenz unterscheiden. Fortschreitende Schädigung oder Verfall des Gehirns ist bei einer Multiinfarkt- oder Vaskulären Demenz und bei der Alzheimer-Erkrankung bei einem frühen Ausbruch der Krankheit zu verzeichnen. Dem gegenüber steht der Demenztypus, bei dem die Verbindung zwischen dem Verfall des Gehirns und dem Fortschreiten der Demenz nicht so deutlich ist, wie bei der Altersdemenz. Bei dieser Demenz liegt nicht immer eine Schädigung oder Veränderung der Hirnstruktur vor, und daher weiß man noch nicht genau, was der Auslöser für diese Form der Demenz ist. Allerdings werde ich auf diese Frage an diesem Punkt nicht näher eingehen, weil noch so vieles im Unklaren ist und weil es den Rahmen des Kapitels sprengen würde.4
In diesem Kapitel werde ich beschreiben, wie betroffene Menschen ihre Welt wahrnehmen und wie sich ihre grundlegenden Bedürfnisse in diese drei Phasen einteilen lassen. Mein Wissen beruht auf meiner 30-jährigen Erfahrung mit diesen Menschen und natürlich aus der Literatur und den Diskussionen mit KollegInnen (Brooker 2006; Feil 1993, 1994; Kitwood 1997; Miesen 1992a, 1992b; Weichselbraun 2009).
Im Anschluss an die Erläuterungen zu den einzelnen Phasen möchte ich auch beschreiben, wie wir als GestalttherapeutInnen oder -beraterInnen den Menschen und sein Umfeld unterstützen können.

3.1 Erste Phase: Ich weiß, dass ich nichts weiß, und das macht mich betroffen

Die erste Phase ist durch die Tatsache gekennzeichnet, dass der Mensch bemerkt, dass ihm manchmal entfällt, was er gerade macht, dass er wichtige Aspekte seines Alltagslebens vergisst oder dass er Fehler macht, an die er sich danach nicht mehr erinnern kann. Er wird durch seine PartnerIn oder seine Pflegeperson mit diesen Fehlern konfrontiert, was natürlich leicht zu Konflikten mit dieser PartnerIn oder Pflegeperson führt. Bekannte Beispiele sind: während eines Gesprächs den Faden verlieren, vergessen, wo sich Dinge befinden, Verabredungen vergessen, Dinge an seltsamen Orten deponieren (z. B. den Wasserkocher im Kühlschrank oder Lebensmittel unter der Matratze). Zu den schwerwiegenderen Anzeichen gehören: vergessen, wichtige Medikamente einzunehmen, das Gas nach dem Kochen abzudrehen, oder – noch schlimmer – vergessen, den Ofen anzumachen, nachdem das Gas aufgedreht wurde.
Zu Anfang sind diese Fehler so geringfügig und irrelevant, dass jeder sie machen könnte. Vielleicht bemerkt sie nur der betroffene Mensch selbst und erklärt sie sich als mangelnde Konzentration oder Müdigkeit. Doch wenn die Fehler sich mehren, fangen auch andere an, sie zu bemerken. Die PartnerIn oder die Kinder kritisieren und verbessern den Menschen möglicherweise, was dazu führt, dass er sich dessen mehr bewusst wird und beginnt, immer unsicherer zu werden.
Aus diesem Grund heißt diese Phase auch die Phase des »bedrohten Ich«. Der Mensch fühlt sich von dem, was mit ihm passiert, bedroht. Er weiß, dass er manches Mal nichts (mehr) weiß, und das macht ihn unsicher, lässt ihn an sich selbst zweifeln und macht ihm Angst. Wir können diesen Zustand als schwere Identitätskrise betrachten.
»Können Sie mir sagen, was mit mir passiert? Manchmal weiß ich, was ich gerade mache, und dann plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich bin und was vor sich geht. Es ist wie bei einem Schalter, den jemand umlegt.«
»Bitte, können Sie mir sagen, was passiert? Es ist, als hätte ich ein Loch im Kopf. Als würde mein Kopf leer. Verliere ich den Verstand?«
In dieser Phase lassen sich jene Menschen, die nur bemerken, dass etwas nicht stimmt, und jene, die dies nicht nur bemerken, sondern auch Bescheid wissen und sich dessen bewusst sind, klar voneinander unterscheiden. Es handelt sich um den Unterschied zwischen der Phase der »Empfindung« und der Phase der »Bewusstheit« im Zyklus des Erlebens. Für jene, die es nur bemerken, bedeutet das, dass sie unsicher werden, zweifeln und sich fragen, was los ist; für jene, die sich dessen bewusst sind, bedeutet es, dass sie wissen, womit sie es zu tun haben. Manche von ihnen wissen auch ganz gut, wie ihre Zukunft möglicherweise aussehen wird. Sie fürchten sich vor einer schrecklichen Zukunft.
»Können Sie mir bitte sagen, ob ich dement werde? Meiner Mutter ist dasselbe passiert, und jetzt habe ich den Eindruck, dass es mir auch passiert.«
»Hören Sie, Sie müssen mich nicht anlügen. Ich weiß genau, was mit mir nicht stimmt. Ich war Arzt, wissen Sie, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich an Alzheimer erkrankt bin. Habe ich recht?«
Gleichzeitig haben die Menschen in der Umgebung des/der Betroffenen dieselben Fragen und Sorgen, und auch bei ihnen können wir diese Unterscheidung treffen.
Zuerst sind jene Menschen, die nicht wissen, was vor sich geht, durch die Fehler, die der/die Betroffene macht, wahrscheinlich ziemlich irritiert, und interpretieren sie möglicherweise als einen Mangel an Konzentration oder Interesse und manchmal sogar als einen Mangel an gutem Willen. Dies führt oft zu Missverständnissen und schmerzhaften Konflikten in der Beziehung. Später, wenn diese PartnerIn oder diese Kinder die Diagnose erfahren und verstehen, was vor sich geht, empfinden sie Scham oder Schuld darüber, wie sie ihre PartnerIn oder ihre(n) Vater/Mutter behandelt haben.
Vor jenen, die begreifen, was los ist, liegt ein langer und schmerzhafter Weg der Trauer und der Verarbeitung. Ein Weg voller schmerzvoller Konfrontationen, ein zunehmender Kontaktverlust, ein zunehmendes Bedürfnis, Verantwortung zu übernehmen und am Ende ein totaler Rollentausch, in dem die PartnerIn oder die Kinder zum »Elternteil« des völlig abhängigen Menschen werden. Die Angst, dass diese Situation eintritt, ist natürlich bei allen Beteiligten präsent.5

3.1.1 Die Figur-Grund-Formation

Lassen Sie uns auf den von Demenz betroffenen Menschen zurückkommen. In dieser Phase, in der der Mensch noch ein klares Bewusstsein für seine vergangene und gegenwärtige Situation hat, wird die Angst davor, »den Verstand zu verlieren«, mehr und mehr zur Figur vor einem Hintergrund einer klaren Lebensgeschichte. Daher versuchen manche Menschen, alte, nicht abgeschlossene Erfahrungen zu lösen und abzuschließen. Sie müssen mit Erinnerungen und mit Gefühlen der Traurigkeit oder Scham und Schuld fertig werden.
Jemand hat mich tatsächlich gefragt: »Wissen Sie, wie ich wieder mit meiner Ex-Frau in Kontakt treten kann, denn ich würde ihr gerne sagen, wie leid es mir tut, was ich ihr angetan habe.«
Und sehr oft wird hinzugefügt: »Jetzt kann ich das noch, aber ich fürchte, dass ich bald nicht mehr dazu in der Lage sein werde.«
Dies macht deutlich, dass der Mensch begreift, dass er sein Gedächtnis und andere Fähigkeiten verliert und dass sich sein Leben in den nächsten Monaten oder Jahren dadurch dramatisch und unwiderruflich verändern wird.
Allgemein kann man sagen, dass die Menschen mit derselben Art der kreativen Anpassung oder demselben Kontaktstil auf die Krise reagieren werden, die sie schon ihr ganzes Leben lang verwendet haben. Manche versuchen, die Krise zu verarbeiten, indem sie sich mit ihrer Realität und allen damit verbundenen Gefühlen wie Traurigkeit, Angst und Wut konfrontieren und sie ihrer Umgebung mitteilen, während andere sie durch Deflexion, Projektion oder Retroflexion verarbeiten.
Es gibt natürlich noch viel mehr Möglichkeiten, doch ich beschränke mich in meiner Beschreibung auf diese drei Stile oder Reaktionen:
1) Deflexion oder Fluchtreaktion
Wenn ein Mensch dazu neigt zu deflektieren oder zu flüchten, wird er das Problem herunterspielen und versuchen, eine Konfrontation zu vermeiden. Wenn es dann zu einer Konfrontation kommt, wird er nach Erklärungen und anderen Geschichten suchen, um eine Fassade aufzubauen und seine Fehler oder Gedächtnislücken zu verstecken. Das nennt sich »konfabulieren«.
Auf die Frage »Wie viele Kinder haben Sie, Herr S.?« antwortete der Mann: »Na ja, wir hatten einige. Wir hatten immer viel Spaß. Meine Frau ist mit ihnen auf den Spielplatz gegangen und später hab ich darauf bestanden, dass sie studieren, weil das wichtig ist.«
Wenn man einen Menschen und seine Geschichte nicht kennt, ist es daher sehr schwierig einzuschätzen, was er wirklich weiß oder was er nur erfindet. Für die PartnerIn ist das manchmal sehr peinlich: Wenn sie um Hilfe ruft, errichtet der Mann in dem Moment, in dem die PsychologIn oder die Pflegekraft hereinkommt, seine Fassade und alles scheint in Ordnung zu sein. Natürlich macht der Mensch das nicht absichtlich, doch es kann ein seltsames Bild von der Situation abgeben.
2) Projektion oder Kampfreaktion
Dabei handelt es sich um eine Reaktion, mit der man nur schwer umgehen kann, besonders die PartnerIn und die Kinder. Anstatt seine Fehler zu leugnen oder sie zu verstecken, neigt dieser Mensch dazu, alle Fehler auf die anderen zu projizieren und sie dafür zu beschuldigen. Sein erster Impuls ist, den anderen wegzustoßen oder das zu bekämpfen, was man ihm sagt.
Wenn jemand einen solchen Menschen fragt, wie viele Kinder er hat, hat er gute Chancen, folgende Antwort zu bekommen: »Wieso wollen Sie das wissen? Das geht Sie nichts an!«
Wenn dieser Mensch seine Uhr oder seine Brieftasche nicht finden kann, ist für ihn völlig klar: Die wurde gestohlen! Einem solchen Menschen helfen zu wollen, ist nicht leicht.
»Was glauben Sie denn??? Ich brauche keine Hilfe. Ich kann das alles alleine. Gehen Sie und nerven Sie Ihre Mutter!«
Es verlangt viel Geduld und Kreativität, den richtigen Weg zu finden und Konflikte zu vermeiden. Ich habe immer großen Respekt und Bewunderung für PartnerInnen und Pflegekräfte, die sich aus dem Streit heraushalten und den Menschen zur Kooperation »verführen« können.
Wie ich bereits geschrieben habe, brauchen diese PartnerInnen viel Unterstützung, teils rein praktischer Natur, teils damit sie etwas freie Zeit zur Entspannung haben, aber vor allem brauchen sie viel Verständnis und emotionale Unterstützung.
In den Selbsthilfegruppen für PartnerInnen und Kinder geht es meist um Gefühle der Ohnmacht, Traurigkeit, Scham, Schuld usw. Doch es gibt auch das Gefühl des Ärgers, manchmal sogar der Wut auf den betroffenen Menschen. Die Angehörigen schämen sich natürlich dieses Ärgers und dieser Wut und es ist für sie eine große Erleichterung, wenn sie diese Gefühle ausdrücken können und sich von den anderen akzeptiert und verstanden fühlen. Manchmal, wenn ich das Gefühl habe, dass Ärger und Wut implizit bleiben, mache ich sie explizit und sage: »Ich kann mir vorstellen, dass manche von Ihnen Ihren Vater/Ehemann manchmal am liebsten umbringen würden. Habe ich recht?«
Natürlich schämen sie sich, doch gleichzeitig sind sie sehr froh und erleichtert, dass ich es ausspreche und dass wir darüber reden können.
3) Retroflexion oder »Freeze«-Reaktion
Mit Retroflexion meine ich hier, dass die erste Tendenz immer ist, die Schuld auf sich zu nehmen und deprimiert über alles zu sein, was schief läuft. Die Betroffenen fühlen sich unsicher und traurig, weil sie sich selbst und ihre Welt nicht mehr verstehen, und suchen die Schuld dafür bei sich selbst. In diesen Fällen war meist die Tendenz zur Retroflexion und das Abgleiten in die Hilflosigkeit die übliche kreative Anpassung während des gesamten Lebens. Vielleicht waren sie daran gewöhnt, eine Mutterfigur um sich zu haben, und jetzt, wo sie sich in ihrer Welt so verloren fühlen, sind sie permanent auf der Suche nach solch einer Mutterfigur.
Wenn wir einen solchen Menschen nach seinen Kindern fragen, bekommen wir ›Tränen‹ zur Antwort: »Ich weiß es nicht mehr und ich weiß nicht, wo meine Kinder sind, und niemand ist hier, um mir zu helfen. Kann ich heute mit Ihnen mitkommen? Darf ich bei Ihnen schlafen? Bitte, helfen Sie mir!«
Der schwierigste Aspekt für eine PartnerIn oder für die Kinder und später auch für die Pflegekräfte, ist, dass ein solcher Mensch immer Ansprache braucht, er lässt einem keine Zeit zum Atmen. Diese Ansprüche können einem wirklich auf die Nerven gehen und verlangen wiederum viel Geduld von der Pflegeperson.
Obwohl Unsicherheit und Angst nicht bei jeder Art der Reaktion offensichtlich sind, sind sie die hauptsächlichen Antriebskräfte in dieser Phase des Lebens. Daher versucht der betroffene Mensch auch, sich als Unterstützung an die Realität zu klammern. Er wird nach Fakten fragen, weil diese Informationen für ihn wie ein Strohhalm sind, an dem er sich festhalten kann. Wenn dieser Mensch sehr unsicher ist, stellt er wieder und wieder dieselb...

Indice dei contenuti

  1. Umschlag
  2. Herausgeberin und Herausgeber
  3. Haupttitel
  4. Impressum
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Vorwort zur englischen Ausgabe (Leslie Greenberg)
  7. Einleitung der Herausgeber (Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal)
  8. Vorwort zur deutschen Ausgabe (Veronica Klingemann und Beatrix Wimmer)
  9. Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland (Lotte Hartmann-Kottek)
  10. Teil I: Grundlegende Prinzipien der Gestalttherapie in der Klinischen Praxis
  11. Teil II: Spezifische Kontexte und fokussierende Betrachtungen
  12. Teil III: Spezifische Lebenssituationen
  13. Teil IV: Spezifische klinische Leiden
  14. Literatur
  15. Ergänzende Literatur zur deutschen Ausgabe
  16. AutorInnen
  17. Anmerkungen
  18. Weitere Bücher
Stili delle citazioni per Gestalttherapie in der klinischen Praxis

APA 6 Citation

[author missing]. (2016). Gestalttherapie in der klinischen Praxis ([edition unavailable]). EHP Edition Humanistische Psychologie. Retrieved from https://www.perlego.com/book/2820292/gestalttherapie-in-der-klinischen-praxis-ein-internationales-handbuch-pdf (Original work published 2016)

Chicago Citation

[author missing]. (2016) 2016. Gestalttherapie in Der Klinischen Praxis. [Edition unavailable]. EHP Edition Humanistische Psychologie. https://www.perlego.com/book/2820292/gestalttherapie-in-der-klinischen-praxis-ein-internationales-handbuch-pdf.

Harvard Citation

[author missing] (2016) Gestalttherapie in der klinischen Praxis. [edition unavailable]. EHP Edition Humanistische Psychologie. Available at: https://www.perlego.com/book/2820292/gestalttherapie-in-der-klinischen-praxis-ein-internationales-handbuch-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

[author missing]. Gestalttherapie in Der Klinischen Praxis. [edition unavailable]. EHP Edition Humanistische Psychologie, 2016. Web. 15 Oct. 2022.