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Glaubenskrise
Man weiĂ nie, wie sehr man an eine Sache wirklich glaubt, bis deren Wahrheit zu einer Frage von Leben oder Tod wird.
C. S. Lewis, «Ăber die Trauer»
Es war dunkel. Ich saĂ alles andere als bequem in einem Schaukelstuhl, dessen Armlehnen sich mir unangenehm in die HĂŒfte drĂŒckten. Mein unruhiges Kleinkind in den Armen wiegend, sang ich leise eine Hymne in die Dunkelheit â eine Dunkelheit, die mir so undurchdringlich vorkam, als könne sie meine Schluchzer in dem Moment ersticken, in dem sie meine Kehle verlieĂen. Ich wandte mich an einen Gott, von dem ich nicht mehr lĂ€nger wusste, ob es ihn ĂŒberhaupt gab.
«Gott, ich weiĂ, du bist real», flĂŒsterte ich. «Bitte lass mich deine Gegenwart spĂŒren. Bitte.»
Nichts.
Kein Anflug von GĂ€nsehaut oder von der vertrauten WĂ€rme, die mich sonst seiner Gegenwart vergewisserte. Busen und Bauch waren geschwollen, mein ganzer schwangerer Körper tat weh, wĂ€hrend mein Töchterchen auf mir herumturnte und versuchte, es sich in meinem SchoĂ bequem zu machen. Obwohl mir die Worte im Hals stecken bleiben wollten, schaffte ich es irgendwie, sie singend herauszustoĂen:
«Im Himmel dort vor Gottes Thron
Tritt jemand anders fĂŒr mich ein âŠÂ»
Alles schmerzte. Aber ich protestierte nicht. Ich erinnerte mich an das, was ich mir mitten in den heftigsten Wehen vor der Entbindung meiner Tochter fest vorgenommen hatte. Ich werde mich nie wieder beklagen, wenn mal irgendetwas scheuĂlich unangenehm ist. WĂ€hrend man so abgrundtiefe Schmerzen wie die einer Geburt erduldet, wĂŒrde man alles dafĂŒr geben, es nur «scheuĂlich unangenehm» zu haben.
Nach achtzehn Stunden RĂŒcken- und fĂŒnf Stunden Presswehen kam Dyllan in einer Notgeburt zur Welt. Als «WillkommensgruĂ» in diese Welt nahm man sie mir aus den Armen, fixierte sie auf einen kalten Metalltisch und schob ihr SchlĂ€uche in die Luftröhre. Diese SchlĂ€uche retteten ihr das Leben. Aber es war eine Rosskur. Ihre Geburt hatte uns beide traumatisiert.
Dennoch war ich ĂŒberwĂ€ltigt von Gottes Frieden, und als man sie mir endlich wieder in die Arme legte, wusste ich es beim ersten Blick. Ich denke, tief in mir hatte dieses Wissen schon immer geschlummert und nur auf den Moment gewartet, da ich es abrufen wĂŒrde. Ich wusste, dass es nichts gab, was ich fĂŒr sie nicht tun wĂŒrde. Kein Berg konnte so hoch sein, dass ich ihn fĂŒr sie nicht besteigen wĂŒrde. Kein Meer konnte so tief sein, dass ich es fĂŒr sie nicht durchschwimmen wĂŒrde. Und kein Kampf konnte so schwer sein, dass ich ihn fĂŒr sie nicht kĂ€mpfen wĂŒrde.
Dass ich derart schnell auf die Probe gestellt werden wĂŒrde, hatte ich jedoch nicht geahnt. Als ich an jenem Abend meine kleine Tochter in den Armen wiegte, hatte ich wieder Wehen, aber diesmal keine körperlichen. Es waren geistliche Wehen. Und den Kampf musste ich nicht nur um meinetwillen kĂ€mpfen. Das Schicksal zweier zusĂ€tzlicher Seelen hing davon ab, wie dieser Glaubenskonflikt ausgehen wĂŒrde.
«Der Hohepriester, Gottes Sohn,
Er kann allein mein Mittler sein.»
Aber ist er das wirklich?
Sitzt Gott wirklich irgendwo da drauĂen, jenseits der Weiten des Alls, auf einem mystischen Thron?
Nimmt er mich ĂŒberhaupt wahr?
Ist all das, was ich von ihm je geglaubt habe, nur eine LĂŒge?
Was geschieht, wenn wir sterben?
«Mein Name steht in seiner Hand,
Er betet fĂŒr mich immerfort âŠÂ»1
Aber stimmt das denn?
Ist die Bibel wirklich Gottes Wort?
Ist die einzige IdentitÀt, die ich je kannte, in Wirklichkeit nur leerer Trug?
Was soll ich meinen Kindern sagen?
Ist Religion am Ende wirklich nur Opium fĂŒrs Volk?
Existiert Gott ĂŒberhaupt?
«WeiĂt du noch, Gott, als Dyllan geboren wurde? WeiĂt du noch, wie mich damals der Friede unwiderstehlich ĂŒberflutete? Ich weiĂ es noch. Dein Friede. â Und weiĂt du noch in New York, Gott? Jener Tag? Ich brauchte dich. Ich weiĂ es noch. Ich weiĂ noch, wie du mich in deiner Gegenwart geborgen hieltest, als ich dort im Bett lag und dachte, ich mĂŒsste sterben.»
Oder handelte es sich bei all diesen Erfahrungen in Wirklichkeit um etwas anderes? Vielleicht war das alles nur das Feuerwerk der Synapsen in meinem Hirn, das meinen gestressten Körper mit einem Cocktail aus Endorphinen und Adrenalin flutete? Was, wenn es nicht mehr war? Gilt das fĂŒr jeden Gottesdienst, jede Freizeit, jede Bibelarbeit?
Ich glaube. Hilf meinem Unglauben.
Mir war, als tauchte ich in einen stĂŒrmischen Ozean und die Wellen schlĂŒgen ĂŒber mir zusammen. Kein Rettungsboot. Keine Hilfe in Sicht. Eines der Schlussbilder aus dem Film Der Sturm aus dem Jahr 2000 (Vorsicht: Spoiler) zeigt ein riesiges, kenterndes Schiff, das von einer Welle, so hoch wie ein Wolkenkratzer, unter Wasser gedrĂŒckt wird. FĂŒr einen Sekundenbruchteil ragt der winzige Kopf eines Menschen aus dem Wasser, um dann wieder in der Tiefe zu verschwinden.
So fĂŒhlte ich mich.
Echt und aufrichtig
Was in aller Welt hatte den Glauben einer starken und frommen Christin wie mir derart ins Wanken gebracht? Wie konnte der Zweifel eine SĂ€ngerin von ZOEgirl ĂŒberwĂ€ltigen, jener bekannten christlichen Band, die durch die ganze Welt tourte, zum Glauben aufrief und viele Jugendliche inspirierte, ihren Glauben zu bekennen und «von den Bergen zu rufen»? â Dazu kommen wir gleich. Zuvor jedoch ein wenig Hintergrundwissen:
Ich war eines jener Kinder. Sie wissen schon. Ein MĂ€dchen, das Jesus in ihr Herz einlud, als sie fĂŒnf Jahre alt war. Eine, die schon in der Bibel las, als sie kaum die Buchstaben kannte. Eine, die morgens frĂŒher aufstand, um ihre Schule zu umrunden und fĂŒr eine Erweckung unter ihren MitschĂŒlern zu beten. Eine, die den Andachts-Lobpreis an ihrer christlichen Highschool leitete und mit einundzwanzig nach New York zog, um in der City benachteiligte Kids zu betreuen. Eine, die keinen Missionseinsatz auslieĂ und im Sommer auf den StraĂen von Los Angeles und New York evangelisierte. Eine, um die man sich keine Sorgen zu machen brauchte. Eine, die bestimmt klarkommen wĂŒrde. Eine, die ihren Glauben nie infrage stellen wĂŒrde.
Als ich etwa zehn Jahre alt war, engagierte sich meine Mutter ehrenamtlich bei Fred Jordan Missions in Los Angeles. Sie nahm uns an den Wochenenden zur SuppenkĂŒche mit, wo ich beobachten konnte, wie sie Prostituierte in die Arme nahm und ĂŒbelriechende Obdachlose in Wolldecken hĂŒllte. Dort erlebte ich auch, wie mein Vater, ein christlicher Musiker, Scharen frierender und hungriger Seelen im Lobpreis anleitete, aus voller Kehle «Amazing Grace» zu singen.
Den Hungrigen zu essen geben. Die Nackten bekleiden. Die AusgestoĂenen lieben. Das wurde mir als echtes Christentum vorgelebt. So machten Christen das. Sie beteten, sie lasen in der Bibel, und sie dienten. Es war nicht perfekt, aber es war echt und aufrichtig.
Ich kann also nicht behaupten, ich sei in blindem Glauben aufgewachsen. Mein Glaube formte sich im Angesicht eines gelebten Evangeliums. Intellektuell jedoch blieb er schwach und unerprobt. Ich hatte keinen Bezugsrahmen, keine Werkzeugkiste, in die ich hĂ€tte greifen können, als alle Gewissheiten, derer ich mir so sicher gewesen war, infrage gestellt wurden. â Und zwar nicht etwa von einem Atheisten, einem sĂ€kularen Humanisten, einem Hindu oder Buddhisten! Es war ein Christ, der meine heraufziehende Glaubenskrise auslöste. Genauer gesagt: ein progressiver christlicher Pastor.
Dieser Pastor lud mich zu einer kleinen, exklusiven GesprĂ€chsgruppe ein. Zu einer Schulung, die mir, wie er meinte, eine theologische Ausbildung verschaffen wĂŒrde, die vergleichbar war mit einem vierjĂ€hrigen Theologiestudium. «Ausbildung» war stark untertrieben. Es war eher eine UmwĂ€lzung. Der Kurs dauerte vier Jahre. Ich hielt ihn vier Monate lang durch.
Man kennt es, dass junge Christen sich vom Glauben abwenden, nachdem sie im Studium von skeptischen Professoren durch die MĂŒhle gedreht wurden. Auch mein Glaube geriet unter Beschuss ⊠allerdings nicht an der Hochschule, sondern in der Kirchenbank. Er wurde von einem Pastor durchgerĂŒttelt, der mein Vertrauen, meinen Respekt und meine LoyalitĂ€t gewonnen hatte. Er war kein dahergelaufener Spinner, der mir bei einem StraĂeneinsatz auf dem Hollywood Boulevard wĂŒtende Tiraden ĂŒber Gott entgegenschleuderte, weil ich ihm ein evangelistisches Traktat in die Hand gedrĂŒckt hatte. Er war ein gebildeter, intellektueller, besonnener und beredsamer Gemeindeleiter â jemand, der von der Liebe zu Jesus sprach. Er war ein glĂ€nzender Kommunikator, und er hatte mit dem Christentum ein HĂŒhnchen zu rupfen.
Treffen fĂŒr Treffen legte er jede mir wertvolle Ăberzeugung von Gott, Jesus und der Bibel auf ein intellektuelles Hackbrett, um sie dann dort zu zerlegen. Als «hoffnungsvoller Agnostiker», wie er sich nannte, nahm der Pastor GrundsĂ€tze des Glaubens unter die Lupe. Jungfrauengeburt? â Unwichtig. Auferstehung? â Hat möglicherweise stattgefunden, brauchst du aber nicht zu glauben. SĂŒhnetod? â Geht gar nicht. Und die Bibel? â BloĂ nicht meinen, die Bibel wĂ€re irrtumslos. Schon OberschĂŒler, meinte er, seien ĂŒber diese primitive Vorstellung hinaus. In unseren Diskussionsrunden galten die «Fundis» (Fundamentalisten) als furchtsame Einfaltspinsel, die einfach schluckten, was man ihnen vorsetzte.
Klar, einiges davon war mir schon zuvor begegnet, auf der Titelseite der Newsweek oder in einer kritischen Fernsehdokumentation ĂŒber Jesus auf dem Discovery Channel. Aber das hat mich nicht ĂŒberrascht, schlieĂlich erwartete ich von Nichtchristen nichts Anderes als Unglauben. Die Zeitschrift konnte ich einfach zuklappen, den Fernseher ausmachen und mich meinem Tagewerk widmen. Doch in dieser kleinen GesprĂ€chsgruppe gab es kein Entrinnen. Es kam mir vor, als hĂ€tte ich als Einzige im Raum schwer an dem zu kauen, was uns da vorgesetzt wurde. Aber ich hatte keine Antworten. Ich war bisher noch nicht einmal auf manche der Fragen gekommen.
SpĂ€ter erfuhr ich, dass progressive Christen dieses EinreiĂen von Lehraussagen â bei dem alle zuvor nicht hinterfragten GlaubenssĂ€tze der Kindheit systematisch auseinandergepflĂŒckt werden â als «Dekonstruktion» bezeichnen.
Nach vier Monaten trennten sich unsere Wege. Der Pastor und die Gemeinde wurden zu einer «progressiven christlichen Gemeinschaft». Gleichzeitig kamen unter Christen landauf, landab, in Internetforen, CafĂ©s und GemeinderĂ€umen Ă€hnliche Diskussionen in Gang. All ihre lange vertretenen Annahmen ĂŒber das Wesen Gottes und die Bibel, den Absolutheitsanspruch des Christentums und biblische Normen bezĂŒglich Gender und sexueller Orientierung kamen auf den PrĂŒfstand. Diese desillusionierten Seelen fanden zueinander. Sie verfassten Blogs. Sie schrieben BĂŒcher. Gemeinden begannen, sich als progressiv zu bezeichnen und die Bekenntnisse auf ihren Websites zu entfernen oder zu ĂŒberarbeiten.
Heute sind viele populĂ€re christliche Autoren, Blogger und Redner progressiv. Ganze Denominationen sind inzwischen voller Leute, die sich so nennen. Dennoch sitzen viele andere Christen Sonntag fĂŒr Sonntag in den KirchenbĂ€nken, ohne auch nur zu ahnen, dass ihre Gemeinde sich eine progressive Theologie zu eigen gemacht hat.
Progressive Christen meiden absolute Aussagen und sammeln sich typischerweise nicht um Glaubensbekenntnisse oder Glaubensaussagen. Der progressive Blogger John Pavlovitz etwa schrieb, im progressiven Christentum gebe e...