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â Isok. 4,9
Denn die Taten der Vergangenheit sind uns allen gemeinsam hinterlassen worden, es ist aber die Eigenschaft der Klugen, diese im rechten Augenblick zu verwenden, ĂŒber jede (Tat) nachzudenken, was ihr (an Bedeutung) zukommt, und sie mit den richtigen Bezeichnungen zu versehen.
Wie verhandelt man Vergangenheit?
Mit den oben angefĂŒhrten Worten formuliert Isokrates im Panegyrikos (380) seinen Anspruch an die Geschichtsdarstellung innerhalb einer Rede.1 Das Zitat bezeugt erstens die Vorstellung, dass Bilder von der gemeinsamen Vergangenheit in einer Rede tradiert werden können und auch sollten. Zweitens wird hier die Meinung vertreten, dass zwar jeder ĂŒber die gemeinsame Vergangenheit sprechen könne, aber nur die Klugen in einer adĂ€quaten Art und Weise. Mit diesen beiden Beobachtungen, dass Geschichte in der Rede einen festen Platz hat und dass sie unterschiedlich, klug oder unbedacht, mehr oder weniger ĂŒberzeugend, dargestellt werden kann, sind die Grundparameter der vorliegenden Studie genannt.
Denn bei der Vergangenheitsdarstellung befand sich ein Redner in der Tat in einer permanenten Konkurrenzsituation. Dieser Wettbewerb entspricht der KomplexitĂ€t der athenischen Erinnerungskultur, die ganz unterschiedliche Formen der Vergangenheitsrezeption hervorgebracht hat. Dazu gehörten eine schriftlich festgehaltene BeschĂ€ftigung mit der Geschichte wie die Historiographie, eine primĂ€r mĂŒndliche Erinnerung mittels Dichtung oder Rhetorik, eine auf Handlungen basierende Form der ritualisierten Erinnerung, wie sie wĂ€hrend der Feste in Erscheinung trat, sowie eine visuelle Form der Erinnerung, die sich in Monumenten, Statuen und Bildern etwa auf der Akropolis, der Agora oder dem Kerameikos manifestierte. Neben solchen Formen der öffentlichen Erinnerung konnten auch einzelne athenische Familien sowie die in der Polis dauerhaft lebenden oder nur vorĂŒbergehend weilenden Fremden eigene Traditionen pflegen.2 Alle diese ErinnerungstrĂ€ger konkurrierten und interagierten miteinander, sie beeinflussten und ergĂ€nzten sich kontinuierlich gegenseitig in synchroner und diachroner Perspektive.3 Diese Vielfalt und stete Möglichkeit der VerĂ€nderung und Aktualisierung der Vorstellungen von der gemeinsamen Vergangenheit sind ein grundsĂ€tzliches Charakteristikum der athenischen Erinnerungskultur. Im demokratischen Athen konnten sich alle oder zumindest sehr viele als eben jene âKlugenâ begreifen, die ĂŒber ihre Vergangenheit wachten.
Doch die Erinnerung mittels Rede war deshalb besonders kompetitiv, weil in der Situation des öffentlichen Vortrags die unterschiedlichen Vorstellungen, WissensstĂ€nde und BedĂŒrfnisse gleichzeitig aufeinanderprallten. Das Ziel einer Rede war die Ăberzeugung. Um ĂŒberzeugend zu sein, musste der Redner aber versuchen, sich mit seiner Version der Erinnerung gegen mögliche andere Versionen durchzusetzen: Er warb um Zustimmung.4 Auf diese Weise wurde mittels Reden unaufhörlich die allen gemeinsam hinterlassene Vergangenheit verhandelt, insofern man sich immer wieder aufs Neue ĂŒber ihre Inhalte sowie deren Deutung und Bedeutung verstĂ€ndigen musste. Die Rhetorik sollte also in besonders deutlicher Weise den dynamischen Charakter der Vergangenheitswahrnehmung einer Gesellschaft spiegeln. Die vorliegende Studie widmet sich dieser kompetitiven Vergangenheitsdarstellung im Kommunikationskontext der Reden, wobei sie die Vermittlungssituation der Volksversammlung und der Gerichtshöfe in den Mittelpunkt rĂŒckt. Sie untersucht vor allem den Umgang der Redner mit der jĂŒngeren Vergangenheit der klassischen Zeit und fragt nach den Strategien fĂŒr die glaubhafte Ăbermittlung, die Bewahrung, die Konstruktion und die Umdeutung von Geschichte im politischen Alltagskontext des klassischen Athen. Diese Wahl gilt es zu begrĂŒnden sowie die Perspektiven einer solchen Untersuchung aufzuzeigen, bevor konkrete Ziele und Fragen formuliert werden können.
Die Tradition der Rede: Redner âbeerbtâ Dichter
Die Rede spielte seit der Archaik eine zentrale Rolle fĂŒr die Bewahrung der Vergangenheit, hier allerdings noch in Form der Dichtung, die bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts die vorherrschende Ausdrucksform der öffentlichen Kommunikation war. Schön zu sprechen, bedeutete poetisch zu sprechen und wurde nicht nur als Zeichen der VerstĂ€ndigkeit, sondern auch als eine göttliche Gabe gewertet.5 Solange die Schriftkenntnis noch nicht sehr entwickelt war und die Ăberlieferung nicht auf materielle TrĂ€ger verlagert werden konnte, oblag es einzelnen Individuen, die gemeinsamen Erinnerungen in ihrem GedĂ€chtnis festzuhalten und weiterzugeben.6 Im archaischen Griechenland waren fĂŒr die Vermittlung der gemeinsamen Erinnerungen entsprechend SĂ€nger-Dichter zustĂ€ndig. Diese besangen berĂŒhmte Taten, die ihren Zuhörern im Wesentlichen bekannt waren; ihre individuelle Leistung bestand in der Ă€sthetischen Ausgestaltung der gemeinsamen Tradition. Durch die mĂŒndliche Verbreitung in Epen, Elegien oder Siegesliedern konnten einzelne Ereignisse und Handlungen die beste und sicherste Form der Verewigung finden, die gleichzeitig auch den Ruhm des Dichters begrĂŒndete.7 Denn die VortrĂ€ge fanden nicht nur vor einem exklusiven Kreis des Symposions statt, sondern auch auf der Agora einer Gemeinde oder an den panhellenischen HeiligtĂŒmern, meistens in einem festlich-agonalen Kontext.8 Die Begegnung der Griechen mit der Vergangenheit war in dieser Zeit eine auditive Erfahrung.
Mit der Entwicklung der Demokratie und der erhöhten Bedeutung der groĂen Gremien (Rat, Volksversammlung, Gerichte) als EntscheidungstrĂ€ger ging in Athen eine âVeralltĂ€glichungâ der Rede einher, die die Ausdrucksweise in Prosa fĂŒr die öffentliche Kommunikation wichtiger machte und ihre Entwicklung zur regelrechten Kunst mitbedingte. In der Forschung wird vielfach darauf verwiesen, dass es bereits in den Epen Reden gab, und die KontinuitĂ€tslinien zur Rhetorik des 5. und 4. Jahrhundert werden diskutiert; dadurch wird teilweise der âImportcharakterâ der Rhetorik als einer erst auf Sizilien durch Korax und Teisias erfundenen Kunstfertigkeit relativiert.9 Parallel zur politischen Entwicklung lĂ€sst sich auch eine wachsende Bedeutung der Prosarede fĂŒr die Bewahrung und die Vermittlung gemeinsamer Erinnerungen feststellen.10 Die Ăhnlichkeiten zwischen den Dichtern und den Rednern treten am deutlichsten bei der Festrede hervor. Die epitaphioi logoi, mit denen in den Kriegsjahren die Gefallenen geehrt wurden,11 erzĂ€hlten eine fast zusammenhĂ€ngende Geschichte Athens und können gewissermaĂen als Pendant zur ErzĂ€hlung eines Epos oder eines Epinikions gelten. Der wesentliche Unterschied bestand hier vor allem in der Wahl des/der Protagonisten. WĂ€hrend etwa in der Ilias die ErzĂ€hlung um den Heros Achilleus gewoben und in der zweiten Pythischen Ode von Pindar die Leistungen des Arkesilaos aus Kyrene besungen wurden, so galt die Aufmerksamkeit im demokratischen Athen der Polis selbst.12 Die Identifikation mit den aristoi, die in der archaischen Gesellschaft die Normen prĂ€gten, wich der Identifikation der BĂŒrgerschaft mit ihrer Polis und stellte eine neue Basis der gemeinsamen Handlungsorientierung dar. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass auch ganz alltĂ€gliche Vermittlungskontexte fĂŒr die Erinnerungskultur der athenischen Demokratie erschlossen wurden.13 Gemeinsame Vergangenheit konnte fĂŒr die HerbeifĂŒhrung von politischen Entscheidungen relevant gemacht werden und war in den Debatten vor der ekklesia und in den dikasteria omniprĂ€sent. Die Redner beschworen hier gemeinsame Erfahrungen und Werte herauf und kreierten dadurch ein imaginĂ€res âWirâ â unter Berufung auf gemeinsame Herkunft und geschichtliche Entwicklung konnte eine NormativitĂ€t plausibler vertreten werden.14
Die Rhetorik ĂŒbernahm Funktionen der Dichtung und wurde von ihr beeinflusst.15 Deutlich ist auch hier die Zusammengehörigkeit von Vortrag und Darbietung, Ăffentlichkeit und AgonalitĂ€t, PrĂ€sentation und Interpretation der Vergangenheit, die enge Beziehung zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft.16 Die Bedeutung der Dichtung fĂŒr die Erinnerungskultur wurde allerdings durch die Entwicklung der Prosarede nicht abgelöst. Neben der nach wie vor groĂen AutoritĂ€t der Epen ist in der demokratischen Tradition Athens auf das Theater zu verweisen, in dem die mythische Vergangenheit immer wieder neu adaptiert wurde. Die alten Dichter wie Aischylos, Sophokles und Euripides behielten im 4. Jahrhundert als Bewahrer der Vergangenheit Bedeutung, ihre Werke erreichten einen kanonischen Status. Seit 386 wurden sie regelmĂ€Ăig anlĂ€sslich der GroĂen Dionysien wiederaufgefĂŒhrt und dadurch im GedĂ€chtnis der Zuschauer stĂ€ndig aktualisiert.17 In dieser AutoritĂ€t der alten Dichtung manifestiert sich auch ein erster Unterschied zur Rhetorik des 4. Jahrhunderts. Denn die öffentliche Rede war ihrem Ă€uĂeren Charakter nach insofern kurzlebig, als sie normalerweise nicht mehrfach vorgetragen wurde.18 Der heute kanonische Status der erhaltenen Reden bezieht sich auf die Redekunst und ist das Ergebnis deutlich spĂ€terer Zeit.19 Zu ihren Lebzeiten mussten die Redner aber immer mit Widerspruch und Kritik rechnen. WĂ€hrend die groĂen Dichter von Homer bis Euripides also aus der Retrospektive des 4. Jahrhunderts als besonders respektvolle Wissensvermittler fungierten, traten die groĂen Redner des demokratischen Athen eher als bloĂe MittrĂ€ger der Erinnerung auf.20 Der zweite wesentliche Unterschied ist die enorme zeitliche Ausdehnung der Vergangenheitsdarstellung in der Rhetorik. WĂ€hrend in Epos oder Theater des 5. Jahrhunderts trotz eines Gegenwartsbezugs meist mythische Stoffe verarbeitet wurden, konnte in der Rede die ganze Bandbreite der griechisch-athenischen Geschichte prĂ€sentiert werden. Unsere Ăberlieferungssituation suggeriert, dass die Redner die Dichter als Bewahrer der gemeinsamen Vergangenheit insofern beerbt haben, als sie deren Aufgabe fortfĂŒhrten, öffentlich vor Publikum ĂŒber Geschichte zu sprechen. Da wir allerdings ĂŒber die Dramen des 4. Jahrhunderts und ihre zeitgenössische Rezeption sehr wenig wissen, fĂ€llt ein Vergleich zwischen Rednern und Dichtern zwangsweise asymmetrisch aus.
Bei der Vermittlung der Vergangenheit hatten die Redner zumindest eine bessere Position a...