Berufsschulen auf dem Abstellgleis
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Berufsschulen auf dem Abstellgleis

Wie wir unser Ausbildungssystem retten können

Katharina Blaß, Armin Himmelrath

  1. 240 pages
  2. German
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Berufsschulen auf dem Abstellgleis

Wie wir unser Ausbildungssystem retten können

Katharina Blaß, Armin Himmelrath

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330 anerkannte Ausbildungsberufe gibt es aktuell in Deutschland - und rund 17.400 StudiengĂ€nge: eine fatale Entwicklung fĂŒr das duale Ausbildungssystem, Exportschlager von Portugal bis Lettland. RĂ€cht sich nun, dass die Politik noch immer die Erhöhung der Akademikerquote anstrebt - und die Berufsschulen einfach vergessen hat?Katharina Blaß und Armin Himmelrath sind sich sicher: Die Bedeutung der Berufsschulen wird seit Jahrzehnten unterschĂ€tzt, ihre Leistungen werden hartnĂ€ckig ignoriert. Dabei bieten Alltag und Praxis der hĂ€ufigsten Schulform heute schon Antworten auf viele der aktuell diskutierten Herausforderungen unseres Schulsystems.Die Autoren skizzieren die aktuelle Lage deutscher Berufsschulen und sprachen mit Lehrern, Ausbildern und Auszubildenden. Sie zeigen bestehende Defizite auf, die vor allem der langen VernachlĂ€ssigung dieser Schulform geschuldet sind. Und sie begrĂŒnden, warum die Berufsschulen zu echten Reformlaboren fĂŒr notwendige VerĂ€nderungen unserer Bildungs- und Ausbildungslandschaft werden könnten - wenn alle den Mut und den Willen dazu aufbrĂ€chten.

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Informations

Année
2016
ISBN
9783896845061
Édition
1

UnterschÀtzt und leistungsfÀhig.
Berufsschule aus schulischer und unternehmerischer Sicht

Die schulische Perspektive

AbgehĂ€ngt, ĂŒbersehen, als einigermaßen verlĂ€sslich funktionierend eingeschĂ€tzt und gerade deshalb weitgehend vergessen – so fĂŒhlen sich viele Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen, wenn man sie nach der aktuellen Situation ihrer Schulform fragt. Die Statements in Ost- und Westdeutschland, im SĂŒden und im Norden, in großen StĂ€dten und in Schulzentren irgendwo auf dem Land gleichen sich: »Wir kommen so gut wie gar nicht vor«, sagt eine sĂ€chsische Berufsschullehrerin, die im Leipziger SpeckgĂŒrtel arbeitet, »nicht in den Medien, nicht in der Bildungspolitik, nicht in den Köpfen der Eltern von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern.« Sie komme sich manchmal »wie ein Störenfried und wie eine lĂ€stige Bittstellerin« vor, wenn sie mal wieder bei einem Unternehmen eine Freistellung fĂŒr einen SchĂŒler beantrage oder einem Landtagsabgeordneten zu erklĂ€ren versuche, was an ihrer Schule ĂŒberhaupt gemacht werde: »In den Köpfen ist immer noch drin: Da gibt’s die Maurerklasse, die Friseurklasse und die Metzger, und die lernen halt neben dem Beruf an zwei Vormittagen pro Woche auch noch ein bisschen Deutsch und Mathe und andere Sachen, die sie im wirklichen Leben niemals brauchen werden.« Vorstellungen, die möglicherweise vor einigen Jahrzehnten noch gestimmt haben, die aber lĂ€ngst von der RealitĂ€t ĂŒberholt sind. »Die Vorurteile sitzen ganz, ganz tief«, bestĂ€tigt auch der Leiter eines Berufsbildungszentrums in Hessen: »An unserer Schule ist nur noch ein gutes Drittel der SchĂŒler in einer klassischen Ausbildung – fast zwei Drittel besuchen Vollzeit-BildungsgĂ€nge und werden von uns auf den unterschiedlichsten Differenzierungsstufen ausgebildet.«
Bundesweit hat das Statistische Bundesamt im Schuljahr 2014/15 insgesamt 2.506.039 BerufsschĂŒler gezĂ€hlt, davon 1.444.086 (rund 57,6 Prozent) in berufsschulischen Teilzeit-StudiengĂ€ngen – also in aller Regel in einer dualen Ausbildung (vgl. Statistisches Bundesamt 2015a, S. 36). Das heißt aber auch: 42,4 Prozent der heutigen BerufsschĂŒler entsprechen gar nicht mehr den weit verbreiteten Vorstellungen davon, wer eigentlich eine Berufsschule besucht. Geht man allein von der Zahl der SchĂŒler aus, gehört die berufsbildende Schule neben dem Gymnasium zu den grĂ¶ĂŸten Schulformen im Land. Hinzu kommt, dass sie im Berufsbildungsgesetz als gleichberechtigter Akteur der beruflichen Bildung genannt wird und damit eigentlich eine starke Stellung zugesprochen bekommt. De facto aber fĂŒhlen sich viele Berufsschulen und ihre Vertreter als fĂŒnftes Rad am Wagen: Von den Ausbildungsbetrieben werden sie ebenso wenig auf Augenhöhe behandelt wie von Vertretern der anderen Schulformen, von der Politik fĂŒhlen sie sich gĂ€nzlich ĂŒbersehen. »Wie zwischen Baum und Borke« komme man sich vor, lautet die immer wieder zu hörende Formulierung von Berufsschulpraktikern. Und tatsĂ€chlich scheint die (Fach-)Öffentlichkeit hĂ€ufig blind zu sein, wenn es um die Rolle der Berufsschulen geht. Bei den Recherchen zu diesem Buch schĂ€lten sich in zahlreichen GesprĂ€chen mit Schulleitungen, Lehrervertretern und anderen Berufsschulakteuren mehrere deutliche Kritikpunkte heraus, die von Seiten der berufskundlichen Schulen einerseits an die kooperierenden Unternehmen, andererseits an die verantwortlichen Bildungspolitiker formuliert wurden. Viele Lehrer und Schulvertreter waren zu einem offenen GesprĂ€ch nur unter der Zusicherung ihrer AnonymitĂ€t bereit; aus diesem Grund sind die Zitate in diesem Kapitel nur vereinzelt namentlich zugeordnet.

ÜbergĂ€nge

Alleingelassen fĂŒhlen sich die Berufsschullehrer von Unternehmen und Politik gleichermaßen, wenn es um den Übergang zwischen Schule und Beruf geht. Bei Betrieben herrsche hĂ€ufig eine Grundhaltung vor, die den beruflichen Schulen die Funktion eines Lieferanten guter Auszubildender zuschreibe. Frei nach dem Motto: Sorgt dafĂŒr, dass unsere Azubis keine Probleme beim Grundwissen, beim Rechnen oder mit der Sprache haben – und wenn es doch Schwierigkeiten geben sollte, dann bĂŒgelt sie bitte schön aus. »Vor ein paar Tagen hatte ich noch ein GesprĂ€ch mit einem mittelstĂ€ndischen Unternehmer«, berichtet ein stellvertretender Leiter eines Berufsbildungszentrums aus der NĂ€he von Stuttgart, »das war richtig unangenehm: Der Mann hat uns vorgeworfen, dass wir seine Auszubildenden mit schulischen Problemen und Fragestellungen belasten, anstatt ihnen fĂŒr die Arbeit im Betrieb â€șden RĂŒcken freizuhaltenâ€č, wie er sich ausdrĂŒckte.« Man habe, klagen viele Berufsschulvertreter, schlicht das GefĂŒhl, ausbildungsfĂ€higes »Azubimaterial« liefern und ansonsten als Reparaturwerkstatt fĂŒr zuvor gescheiterte oder zumindest nicht optimal verlaufene Schulkarrieren dienen zu sollen. Doch der Übergang vom schulischen zum betrieblichen Lernen und die Besonderheit der dualen Ausbildung mit dem Nebeneinander beider Vermittlungsformen könne nur gelingen, wenn die Bildungsakteure in Schule und Betrieb miteinander kommunizieren – und diesen Übergangsprozess fĂŒr den einzelnen Jugendlichen und fĂŒr den jeweiligen Betrieb feinjustieren. »Dazu gehört dann auch ein grundlegendes VerstĂ€ndnis fĂŒr bestimmte pĂ€dagogische Prozesse und dafĂŒr, dass sie nicht immer nach Schema F ablaufen und manchmal einfach ihre Zeit benötigen«, sagt ein Techniklehrer. Und manchmal, fĂŒgt er nach kurzem Nachdenken hinzu, wĂ€re es auch »hilfreich«, wenn sich der Ausbildungsbetrieb ĂŒberhaupt grundlegend dafĂŒr interessierte, was in der Berufsschule mit dem Auszubildenden passiert.
Aber nicht nur die Unternehmen, auch die Bildungspolitiker und vor allem die politischen Entscheider auf kommunaler und regionaler Ebene sollten sich stĂ€rker fĂŒr die Schnittstelle zwischen Schule und Beruf interessieren, heißt es immer wieder. Das Übergangsmanagement mĂŒsse gestĂ€rkt und eine Lotsenfunktion durch die zahlreichen Beratungs-, Betreuungs- und Begleitangebote etabliert werden. Einzelne StĂ€dte haben ein solches Übergangsmanagement bereits eingerichtet: So gibt es etwa im NĂŒrnberger Amt fĂŒr berufliche Schulen das Projekt SCHLAU (Schule – Lernerfolg – Ausbildung), das Jugendliche und junge Erwachsene sowohl beim Übergang von der Schule zur Aus- oder Weiterbildung oder ins Übergangssystem als auch beim Wechsel vom Übergangssystem in eine Arbeit oder Ausbildung begleitet. Die Berater nutzen dafĂŒr ein breites Spektrum an Möglichkeiten: von der Beratung an der Schule ĂŒber gelenkte Praktika und individuelle Kompetenzermittlung und -förderung bis hin zur bedarfsgerechten Einzelbetreuung im gesamten Prozess der Berufsbildung. »Wir wissen, dass so eine gute Verzahnung lĂ€ngst nicht in allen StĂ€dten der Normalfall ist«, heißt es bei NĂŒrnberger Berufsschullehrern. Dennoch gibt es weitere Positivbeispiele, etwa im hessischen Offenbach mit dem Projekt OloV (Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit im Übergang Schule–Beruf), wo seit 2005 ein gezieltes Übergangsmanagement existiert und diese Aufgabe seit 2014 bei der Kommune angesiedelt ist. Die Berater wollen dabei »in regionalen ZusammenhĂ€ngen Strukturen schaffen, stabilisieren und dauerhaft verankern, in denen Jugendliche beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstĂŒtzt werden, durch Kooperation und Koordination der Ausbildungsmarkt-Akteure junge Menschen schneller in Ausbildung vermitteln und die Transparenz ĂŒber Angebote und Maßnahmen in diesem Feld erhöhen sowie Parallel- und Doppelstrukturen vermeiden«. Ein umfangreiches Aufgabenpaket, das nur mit entsprechenden personellen und finanziellen KapazitĂ€ten zu bewĂ€ltigen ist, das von Berufsschulvertretern aber immer wieder als wĂŒnschenswerte und wichtige UnterstĂŒtzung ihrer Arbeit genannt wird.

Zugehen auf neue Zielgruppen

Ein weiterer, immer wieder genannter Wunsch der Berufsschulen an die Unternehmen ist auch ein aktiverer Umgang mit vermeintlich schwĂ€cheren SchĂŒlern und Bewerbern. Selbst wenn es den Lehrern im berufskundlichen Unterricht gelinge, diese SchĂŒler zu motivieren und zu stĂ€rken, erlebten die Betroffenen bei der Suche nach einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle dann hĂ€ufig ablehnende ZurĂŒckhaltung. Viele Unternehmen, so die Erfahrung der Berufsschullehrer, wĂŒrden selbst bei Bewerbermangel die Besetzung einer Lehrstelle möglichst lange offenhalten, um bei einer eventuell spĂ€ter eingehenden Bewerbung eines vermeintlich besseren Kandidaten doch noch zugreifen zu können. Den schwĂ€cher eingeschĂ€tzten Bewerbern werde mehr oder weniger deutlich mitgeteilt, dass sie allenfalls zweite oder dritte Wahl seien und nur dann zum Zuge kĂ€men, wenn sich auch nach lĂ€ngerem Warten niemand anderes findet. »Damit wird alle Motivation und alles Engagement der jungen Leute so grĂŒndlich und nachhaltig zerstört, dass unsere Arbeit dann hĂ€ufig umsonst war«, berichtet eine Fachlehrerin fĂŒr Wirtschaft von dieser Erfahrung: »Wir sind dazu ausgebildet, auch leistungsschwĂ€chere SchĂŒler zur Ausbildungsreife zu bringen, und können diese Herausforderung auch meistern. Aber fĂŒr einen dauerhaften und nachhaltigen Erfolg brauchen wir dann auch die betriebliche Seite, die diese SchĂŒler aufnehmen und weiter begleiten muss.« Man könne auf Seiten der Wirtschaft nicht immer nur beklagen, dass man keine Auszubildenden finde, sondern mĂŒsse sich auch bewegen und die AusbildungsplĂ€tze attraktiv machen fĂŒr diejenige Klientel, die zur VerfĂŒgung stehe – egal, ob es dabei um vermeintlich schwĂ€chere oder stĂ€rkere Bewerberinnen und Bewerber gehe.
Beide Gruppen seien in den berufsbildenden Schulen vertreten, »aber die Unternehmen gehen hĂ€ufig nur sehr schematisch an die Stellenbesetzung heran und stoßen damit SchĂŒler außerhalb des Mittelmaßes vor den Kopf«, so die WirtschaftspĂ€dagogin. Sie konstatiert allerdings auch »seit einigen Jahren ein langsames Umdenken«. Immer öfter wĂŒrden sich Betriebe auf Jugendliche einlassen, die mehr Betreuung und UnterstĂŒtzung benötigen als andere Bewerber: »Es wird gar nicht anders gehen, als dieses Reservoir an jungen Leuten zu nutzen, und die DiversitĂ€t der SchĂŒler wird eher grĂ¶ĂŸer als kleiner.«

Individualisierung

Die Berufsschullehrerin, die in Berlin lebt und arbeitet, leitet aus dieser Entwicklung eine klare bildungspolitische Forderung ab, die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen auch in anderen BundeslĂ€ndern unterstĂŒtzt wird: Weil die SchĂŒlerschaft an berufsbildenden Schulen immer heterogener wird, mĂŒssen die Schulen mehr Personal und Möglichkeiten erhalten, SchĂŒler individuell und bei Bedarf auch sonderpĂ€dagogisch fördern zu können. Die Spannbreite reiche mittlerweile vom 16-jĂ€hrigen FlĂŒchtlingskind mit rudimentĂ€ren Deutschkenntnissen bis zur 20-jĂ€hrigen Abiturientin mit bildungsbĂŒrgerlichem Familienhintergrund, von der behinderten Auszubildenden bis zum 22-jĂ€hrigen SpĂ€tzĂŒnder, der sich erst nach vielen Umwegen zu einer beruflichen Qualifikationsmaßnahme entschlossen habe. »Der Umgang mit DiversitĂ€t gilt ja als aktuelle Herausforderung im Bildungssystem«, sagt die Berliner Lehrerin und muss lachen: »Ich bin jetzt deutlich lĂ€nger als 20 Jahre Berufsschullehrerin, und die DiversitĂ€t meiner SchĂŒler war damals mit das Erste, was ich wahrgenommen habe.« FĂŒr ihr Kollegium wĂŒnscht sie sich außerdem die dauerhafte, mit Planstellen abgesicherte UnterstĂŒtzung durch SozialpĂ€dagogen und durch einen Schulpsychologen, »weil diese Vielzahl von oft auch schwierigen Lebens- und Bildungswegen unserer SchĂŒler eine sehr individuelle Ansprache unerlĂ€sslich macht«. Der Leiter eines Berufskollegs in NRW schließt sich dieser Forderung nach einer deutlich besseren und multiprofessionell ausgerichteten Personalausstattung an: Die Berechnung der Lehrerplanstellen nach dem ĂŒblichen BetreuungsschlĂŒssel, sagt er, sei fĂŒr berufsbildende Schulen kaum vertretbar. »Das Land geht von 22 bis 25 SchĂŒlern pro Lehrer aus«, sagt der langjĂ€hrige Schulleiter, »und wenn ich in einer Klasse weniger als 16 SchĂŒlerinnen und SchĂŒler habe, dann darf ich diese Klasse gar nicht erst aufmachen.« Das sei die eine, die rechnerische Seite. PĂ€dagogisch-didaktisch aber gebe es einen viel grĂ¶ĂŸeren Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern: »Wir haben bei uns mehrere Klassen mit 18 oder 19 SchĂŒlern, was auf dem Papier nach einer sehr guten Versorgung mit Planstellen aussieht. In Wirklichkeit aber könnten wir in vielen dieser Klassen sogar noch eine zweite Lehrkraft oder zumindest einen SozialpĂ€dagogen gebrauchen, weil die SchĂŒler so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen – aber das versteht die Politik leider nicht.« Hinzu komme noch der Sachmittelbedarf, der durch die aktuellen Zuweisungen ebenfalls nur unzureichend gedeckt ist: »Theoretisch mĂŒssen wir ja permanent auf dem neuesten Stand der Technik sein, um den SchĂŒlern die Dinge beibringen zu können, mit denen sie auch im Betrieb und im realen Wirtschaftsleben zu tun haben. Wir stehen hier ja die ganze Zeit unter verschĂ€rfter Beobachtung der Industrie.« Doch weil sich die Technologie und die Materialien so schnell weiterentwickeln, sei das nur schwer zu leisten – und schon gar nicht, wenn die Sachmittel seit Jahren nicht erhöht wurden. So habe er selbst eine Unterrichtsstunde mit angehenden Kunststofftechnikern erlebt, in der ein SchĂŒler fragte: »Gibt es eigentlich einen Kunststoff, der sich selbst schmiert?« Die Antwort des Lehrers: »Nein, nicht dass ich davon wĂŒsste.« Daraufhin zog der SchĂŒler ein StĂŒck Kunststoff aus der Tasche: »Hier, damit arbeiten wir bei uns im Betrieb.« Solche Situationen, sagt der Schulleiter, ließen sich natĂŒrlich nicht gĂ€nzlich vermeiden, mĂŒssten eigentlich aber – bei angemessener finanzieller und personeller Ausstattung der berufsbildenden Schulen – die absolute Ausnahme sein.

Personalentwicklung

Noch ein weiterer Wunsch wurde, vor allem auf der Leitungsebene von berufspĂ€dagogisch orientierten Schulen, in Richtung der Politik geĂ€ußert: die Bitte um eine stĂ€rkere UnterstĂŒtzung der Schulen bei der Rekrutierung von Lehrpersonal. Es könne nicht sein, so die Überzeugung vieler Schulleiter, dass die Berufsschule mitunter als Auffangbecken fĂŒr ansonsten im Bildungssystem gescheiterte Lehrer verstanden werde – oder als Schulform, der es problemlos zuzumuten sei, pĂ€dagogisch nur unzureichend ausgebildete Quereinsteiger in großer Zahl in die Kollegien zu integrieren, weil es nicht genĂŒgend sonstige Bewerber fĂŒr freie Fachlehrerstellen gibt. Quereinsteiger aus der Industrie seien zwar sehr willkommen, benötigten aber gerade zu Beginn ihrer TĂ€tigkeit als Lehrerinnen und Lehrer mehr Betreuung und UnterstĂŒtzung als Kollegen, die ein entsprechendes Lehramtsstudium und ein Referendariat durchlaufen haben. Diese zusĂ€tzliche kollegiale Betreuung aber bindet Ressourcen – und kann deshalb nicht als Allheilmittel gegen den Fachlehrermangel eingesetzt werden, warnen die Berufsschulpraktiker. Und sie wĂŒnschen sich öffentlich sichtbare UnterstĂŒtzung bei der Nachwuchsgewinnung: Wissenschafts- und Schulminister, die symbolisch deutlich machen, wie wichtig das Berufsschullehramt als Studiengang ist und welche WertschĂ€tzung sie ihm entgegenbringen. Denn immer noch, berichten Berufsschullehrer, mĂŒssten sie sich im Smalltalk mit anderen SchulpĂ€dagogen anhören: »Ich bin richtige Lehrerin, an einem Gymnasium.« Mehrfach wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass Schulpreise und andere Wettbewerbsauszeichnungen viel zu selten auch an berufsbildende Schulen verliehen werden.

WertschÀtzung

Aus der Perspektive der Berufsschulen gehört auf die Wunschliste an die Unternehmen noch ein weiterer Punkt, der sich in zwei Aspekte aufgliedern lĂ€sst. Dabei geht es um die WertschĂ€tzung der Schulen durch die Industrie. »Wenn ich Treffen und Termine mit einem Ausbilder abspreche, die dann aber immer wieder verschoben werden, weil betriebliche Dinge fĂŒr ihn jedes Mal Vorrang haben, komme ich mir schon verschaukelt vor«, berichtet ein Techniklehrer aus Wuppertal. Er wĂŒnscht sich nicht nur bei öffentlichkeitswirksamen Großprojekten, sondern auch im Rahmen der ganz normalen Ausbildungszusammenarbeit feste Zeitfenster, in denen sich Betriebe und berufsbildende Schulen zusammensetzen und das weitere gemeinsame Vorgehen besprechen. Dies gelte auch fĂŒr die VollzeitschĂŒler bei der Kooperation mit Praktikumsbetrieben: »Gerade wenn es nicht um die eigenen Lehrlinge geht, sind viele Unternehmen extrem unwillig, Zeit in die Zusammenarbeit mit uns als Berufsschule zu stecken.« Aber nur mit guter Kommunikation, so der Lehrer weiter, lasse sich der jeweilige SchĂŒler optimal fördern: »Diese Zeit fĂŒr Kommunikation muss nicht nur ich, sondern auch der Ausbilder oder der Praktikumsbetreuer investieren.« Gleichzeitig verweise der Umgang eines Unternehmens mit den kooperierenden Berufsschulen auch auf einen zweiten Aspekt: darauf nĂ€mlich, wie wichtig das Thema Ausbildung innerhalb des Betriebs genommen wird. Denn auch dort mĂŒsste, sind sich die meisten Berufsschullehrer einig, ein Kulturwandel einsetzen, wie er zwar vor allem in grĂ¶ĂŸeren Betrieben schon zu beobachten sei, in kleineren jedoch erst verzögert zur Geltung komme. Ein Kulturwandel, bei dem das Ansehen und die Bedeutung der Ausbildung gestĂ€rkt werden – und damit ein Betriebsklima entstehe, in dem Auszubildende nicht als gĂŒnstige ArbeitskrĂ€fte verstanden werden, die sich in den zwei oder drei Jahren ihrer Ausbildung schon irgendwie von selbst in den Betriebsablauf einfinden und möglicherweise als zukĂŒnftige Mitarbeiter hĂ€ngenbleiben.

Schule mit anderem Anspruch

»Als die frĂŒheren Berufsschulen zu Berufskollegs erweitert wurden, stand dahinter ja eine umfassende pĂ€dagogische Idee«, sagt Matthias Herwartz vom Goldenberg Berufskolleg in HĂŒrth. Die Idee nĂ€mlich, das Lernen im Bereich der Berufsbildung anders und besser zu organisieren: allgemeine und berufliche Bildung sollten auf gesellschaftlich relevante und auf dem Arbeitsmarkt nutzbare Weise verschmolzen werden, die SchĂŒler dafĂŒr eine differenzierte, auf ihre BedĂŒrfnisse abgestimmt parallele Qualifizierung in beruflicher und in allgemeinbildender Hinsicht durchlaufen. PraxisnĂ€he und Bildungsanspruch, Erziehung zur MĂŒndigkeit und handfeste Qualifikationen sollten dabei Hand in Hand gehen – auch wenn der Kolleg-Gedanke vom Lernen auf Augenhöhe und mit relevantem Curriculum politisch nie wirklich so umgesetzt wurde, wie er einmal gedacht gewesen war. Stattdessen wurden die Berufskollegs, die in fast jedem Bundesland anders heißen, zur schulischen Resterampe – eine Positionierung, mit der sich Matthias Herwartz nie abfinden wollte.
»Vom SelbstverstĂ€ndnis her sind wir so etwas wie die Oberstufe der Real- oder Sekundarschule«, sagt der Schulleiter und verweist auf den Weg zum Abitur, der prinzipiell jedem SchĂŒler einer berufskundlichen Schule offensteht. Dieser Fakt ist im Wettbewerb der Bildungsanbieter ein wichtiges Argument fĂŒr die AttraktivitĂ€t der Berufsschulen, denn Studien zeigen: Jugendliche und ihre Eltern finden einen Bildungsweg besonders dann attraktiv, wenn dieser die Option zu einer weiterfĂŒhrenden Qualifikation möglichst lange offenhĂ€lt. Genau das aber machen die Berufsschulen: Durch das differenziert abgestufte Instrumentarium an Bildungswegen, die untereinander in den meisten FĂ€llen anschlussfĂ€hig sind, bieten sie den SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern genau diese lang andauernde Option weiterer Qualifikation.
So wie bei Denis (Name geĂ€ndert), der die Hauptschule nach der 9. Klasse ohne Abschluss verlassen und sich »ohne echten Willen«, wie er selbst im RĂŒckblick sagt, um eine Lehr- oder Arbeitsstelle bemĂŒht hatte. Seine Bewerbungsschreiben waren lustlos, und als er trotzdem zum VorstellungsgesprĂ€ch als Hilfsarbeiter in einem Gartenbaubetrieb eingeladen wurde, »da habe ich den Termin einfach sausenlassen, weil ich keinen Bock hatte«. Denis landete im Übergangssystem – und erarbeitete sich ĂŒber ein Berufsvorbereitungsjahr ĂŒberhaupt erst einmal die Ausbildungsreife. »Er hat dann die Berufsfachschule angeschlossen und, nach einigen Schwierigkeiten, die Fachoberschulreife erlangt«, berichtet einer seiner Lehrer. Mittlerweile hat er den Hauptschulabschluss der 10. Klasse nachgeholt und eine Lehre als Heizungsbauer begonnen. »Ich bin total stolz, dass ich das geschafft habe«, sagt Denis. Ob er damit seinen Traumberuf gefunden hat? Er nickt – und sagt dann: »Das ist schon gut. Aber wenn ich will, kann ich danach noch die Fachhochschulreife machen oder vielleicht irgendwann auf die Meisterschule gehen.« Festlegen will er sich noch nicht – und muss es auch nicht, weil das Berufskolleg, das er in Nordrhein-Westfalen besucht, ihm im BeratungsgesprĂ€ch deutlich gemacht hat, dass es immer noch weitere Wege der Qualifizierung gibt, die er bei Interesse beschreiten kann.
Doch diese abgestuften Optionen und Aufstiegschancen sind vielen Eltern und sogar SchĂŒlern, erst recht aber Außenstehenden völlig unbekannt, sagt der HĂŒrther Schulleiter: »Viele Eltern kommen irgendwann zu uns und sagen: Wenn ich gewusst hĂ€tte, was Sie alles anbieten, hĂ€tte ich mein Kind bei Ihnen angemeldet.« Oft gebe es dann bereits etliche schlechte Erfahrungen in anderen Schulformen und schulische Umwege, die so nicht nötig gewesen wĂ€ren.
Aktuell sehen sich die Berufsschulen einem zunehmenden Wettbewerb mit anderen Schulformen ausgesetzt – erste Vorzeichen eines immer stĂ€rker werdenden Kampfs um die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler. Denn die demografische Entwicklung i...

Table des matiĂšres

  1. Vorbemerkung
  2. Berufsschule in der Krise
  3. UnterschÀtzt und leistungsfÀhig
  4. Ein langer, schwerer Weg
  5. Dual und mit Abitur
  6. Motor und Ideengeber
  7. Der Blick nach vorn
  8. Schematischer Überblick ĂŒber die Besonderheiten der Systeme der beruflichen Bildung in den einzelnen BundeslĂ€ndern
  9. Literatur
  10. Über die Autoren
  11. Impressum
Normes de citation pour Berufsschulen auf dem Abstellgleis

APA 6 Citation

Blaß, K., & Himmelrath, A. Berufsschulen auf dem Abstellgleis (1st ed.). Körber-Stiftung. Retrieved from https://www.perlego.com/book/988744/berufsschulen-auf-dem-abstellgleis-wie-wir-unser-ausbildungssystem-retten-knnen-pdf (Original work published)

Chicago Citation

Blaß, Katharina, and Armin Himmelrath. Berufsschulen Auf Dem Abstellgleis. 1st ed. Körber-Stiftung. https://www.perlego.com/book/988744/berufsschulen-auf-dem-abstellgleis-wie-wir-unser-ausbildungssystem-retten-knnen-pdf.

Harvard Citation

Blaß, K. and Himmelrath, A. Berufsschulen auf dem Abstellgleis. 1st edn. Körber-Stiftung. Available at: https://www.perlego.com/book/988744/berufsschulen-auf-dem-abstellgleis-wie-wir-unser-ausbildungssystem-retten-knnen-pdf (Accessed: 14 October 2022).

MLA 7 Citation

Blaß, Katharina, and Armin Himmelrath. Berufsschulen Auf Dem Abstellgleis. 1st ed. Körber-Stiftung. Web. 14 Oct. 2022.