Berufsschulen auf dem Abstellgleis
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Berufsschulen auf dem Abstellgleis

Wie wir unser Ausbildungssystem retten können

Katharina Blaß, Armin Himmelrath

  1. 240 pages
  2. German
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Berufsschulen auf dem Abstellgleis

Wie wir unser Ausbildungssystem retten können

Katharina Blaß, Armin Himmelrath

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330 anerkannte Ausbildungsberufe gibt es aktuell in Deutschland - und rund 17.400 Studiengänge: eine fatale Entwicklung für das duale Ausbildungssystem, Exportschlager von Portugal bis Lettland. Rächt sich nun, dass die Politik noch immer die Erhöhung der Akademikerquote anstrebt - und die Berufsschulen einfach vergessen hat?Katharina Blaß und Armin Himmelrath sind sich sicher: Die Bedeutung der Berufsschulen wird seit Jahrzehnten unterschätzt, ihre Leistungen werden hartnäckig ignoriert. Dabei bieten Alltag und Praxis der häufigsten Schulform heute schon Antworten auf viele der aktuell diskutierten Herausforderungen unseres Schulsystems.Die Autoren skizzieren die aktuelle Lage deutscher Berufsschulen und sprachen mit Lehrern, Ausbildern und Auszubildenden. Sie zeigen bestehende Defizite auf, die vor allem der langen Vernachlässigung dieser Schulform geschuldet sind. Und sie begründen, warum die Berufsschulen zu echten Reformlaboren für notwendige Veränderungen unserer Bildungs- und Ausbildungslandschaft werden könnten - wenn alle den Mut und den Willen dazu aufbrächten.

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Information

Year
2016
ISBN
9783896845061
Edition
1

Unterschätzt und leistungsfähig.
Berufsschule aus schulischer und unternehmerischer Sicht

Die schulische Perspektive

Abgehängt, übersehen, als einigermaßen verlässlich funktionierend eingeschätzt und gerade deshalb weitgehend vergessen – so fühlen sich viele Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen, wenn man sie nach der aktuellen Situation ihrer Schulform fragt. Die Statements in Ost- und Westdeutschland, im Süden und im Norden, in großen Städten und in Schulzentren irgendwo auf dem Land gleichen sich: »Wir kommen so gut wie gar nicht vor«, sagt eine sächsische Berufsschullehrerin, die im Leipziger Speckgürtel arbeitet, »nicht in den Medien, nicht in der Bildungspolitik, nicht in den Köpfen der Eltern von Schülerinnen und Schülern.« Sie komme sich manchmal »wie ein Störenfried und wie eine lästige Bittstellerin« vor, wenn sie mal wieder bei einem Unternehmen eine Freistellung für einen Schüler beantrage oder einem Landtagsabgeordneten zu erklären versuche, was an ihrer Schule überhaupt gemacht werde: »In den Köpfen ist immer noch drin: Da gibt’s die Maurerklasse, die Friseurklasse und die Metzger, und die lernen halt neben dem Beruf an zwei Vormittagen pro Woche auch noch ein bisschen Deutsch und Mathe und andere Sachen, die sie im wirklichen Leben niemals brauchen werden.« Vorstellungen, die möglicherweise vor einigen Jahrzehnten noch gestimmt haben, die aber längst von der Realität überholt sind. »Die Vorurteile sitzen ganz, ganz tief«, bestätigt auch der Leiter eines Berufsbildungszentrums in Hessen: »An unserer Schule ist nur noch ein gutes Drittel der Schüler in einer klassischen Ausbildung – fast zwei Drittel besuchen Vollzeit-Bildungsgänge und werden von uns auf den unterschiedlichsten Differenzierungsstufen ausgebildet.«
Bundesweit hat das Statistische Bundesamt im Schuljahr 2014/15 insgesamt 2.506.039 Berufsschüler gezählt, davon 1.444.086 (rund 57,6 Prozent) in berufsschulischen Teilzeit-Studiengängen – also in aller Regel in einer dualen Ausbildung (vgl. Statistisches Bundesamt 2015a, S. 36). Das heißt aber auch: 42,4 Prozent der heutigen Berufsschüler entsprechen gar nicht mehr den weit verbreiteten Vorstellungen davon, wer eigentlich eine Berufsschule besucht. Geht man allein von der Zahl der Schüler aus, gehört die berufsbildende Schule neben dem Gymnasium zu den größten Schulformen im Land. Hinzu kommt, dass sie im Berufsbildungsgesetz als gleichberechtigter Akteur der beruflichen Bildung genannt wird und damit eigentlich eine starke Stellung zugesprochen bekommt. De facto aber fühlen sich viele Berufsschulen und ihre Vertreter als fünftes Rad am Wagen: Von den Ausbildungsbetrieben werden sie ebenso wenig auf Augenhöhe behandelt wie von Vertretern der anderen Schulformen, von der Politik fühlen sie sich gänzlich übersehen. »Wie zwischen Baum und Borke« komme man sich vor, lautet die immer wieder zu hörende Formulierung von Berufsschulpraktikern. Und tatsächlich scheint die (Fach-)Öffentlichkeit häufig blind zu sein, wenn es um die Rolle der Berufsschulen geht. Bei den Recherchen zu diesem Buch schälten sich in zahlreichen Gesprächen mit Schulleitungen, Lehrervertretern und anderen Berufsschulakteuren mehrere deutliche Kritikpunkte heraus, die von Seiten der berufskundlichen Schulen einerseits an die kooperierenden Unternehmen, andererseits an die verantwortlichen Bildungspolitiker formuliert wurden. Viele Lehrer und Schulvertreter waren zu einem offenen Gespräch nur unter der Zusicherung ihrer Anonymität bereit; aus diesem Grund sind die Zitate in diesem Kapitel nur vereinzelt namentlich zugeordnet.

Übergänge

Alleingelassen fühlen sich die Berufsschullehrer von Unternehmen und Politik gleichermaßen, wenn es um den Übergang zwischen Schule und Beruf geht. Bei Betrieben herrsche häufig eine Grundhaltung vor, die den beruflichen Schulen die Funktion eines Lieferanten guter Auszubildender zuschreibe. Frei nach dem Motto: Sorgt dafür, dass unsere Azubis keine Probleme beim Grundwissen, beim Rechnen oder mit der Sprache haben – und wenn es doch Schwierigkeiten geben sollte, dann bügelt sie bitte schön aus. »Vor ein paar Tagen hatte ich noch ein Gespräch mit einem mittelständischen Unternehmer«, berichtet ein stellvertretender Leiter eines Berufsbildungszentrums aus der Nähe von Stuttgart, »das war richtig unangenehm: Der Mann hat uns vorgeworfen, dass wir seine Auszubildenden mit schulischen Problemen und Fragestellungen belasten, anstatt ihnen für die Arbeit im Betrieb ›den Rücken freizuhalten‹, wie er sich ausdrückte.« Man habe, klagen viele Berufsschulvertreter, schlicht das Gefühl, ausbildungsfähiges »Azubimaterial« liefern und ansonsten als Reparaturwerkstatt für zuvor gescheiterte oder zumindest nicht optimal verlaufene Schulkarrieren dienen zu sollen. Doch der Übergang vom schulischen zum betrieblichen Lernen und die Besonderheit der dualen Ausbildung mit dem Nebeneinander beider Vermittlungsformen könne nur gelingen, wenn die Bildungsakteure in Schule und Betrieb miteinander kommunizieren – und diesen Übergangsprozess für den einzelnen Jugendlichen und für den jeweiligen Betrieb feinjustieren. »Dazu gehört dann auch ein grundlegendes Verständnis für bestimmte pädagogische Prozesse und dafür, dass sie nicht immer nach Schema F ablaufen und manchmal einfach ihre Zeit benötigen«, sagt ein Techniklehrer. Und manchmal, fügt er nach kurzem Nachdenken hinzu, wäre es auch »hilfreich«, wenn sich der Ausbildungsbetrieb überhaupt grundlegend dafür interessierte, was in der Berufsschule mit dem Auszubildenden passiert.
Aber nicht nur die Unternehmen, auch die Bildungspolitiker und vor allem die politischen Entscheider auf kommunaler und regionaler Ebene sollten sich stärker für die Schnittstelle zwischen Schule und Beruf interessieren, heißt es immer wieder. Das Übergangsmanagement müsse gestärkt und eine Lotsenfunktion durch die zahlreichen Beratungs-, Betreuungs- und Begleitangebote etabliert werden. Einzelne Städte haben ein solches Übergangsmanagement bereits eingerichtet: So gibt es etwa im Nürnberger Amt für berufliche Schulen das Projekt SCHLAU (Schule – Lernerfolg – Ausbildung), das Jugendliche und junge Erwachsene sowohl beim Übergang von der Schule zur Aus- oder Weiterbildung oder ins Übergangssystem als auch beim Wechsel vom Übergangssystem in eine Arbeit oder Ausbildung begleitet. Die Berater nutzen dafür ein breites Spektrum an Möglichkeiten: von der Beratung an der Schule über gelenkte Praktika und individuelle Kompetenzermittlung und -förderung bis hin zur bedarfsgerechten Einzelbetreuung im gesamten Prozess der Berufsbildung. »Wir wissen, dass so eine gute Verzahnung längst nicht in allen Städten der Normalfall ist«, heißt es bei Nürnberger Berufsschullehrern. Dennoch gibt es weitere Positivbeispiele, etwa im hessischen Offenbach mit dem Projekt OloV (Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit im Übergang Schule–Beruf), wo seit 2005 ein gezieltes Übergangsmanagement existiert und diese Aufgabe seit 2014 bei der Kommune angesiedelt ist. Die Berater wollen dabei »in regionalen Zusammenhängen Strukturen schaffen, stabilisieren und dauerhaft verankern, in denen Jugendliche beim Übergang von der Schule in den Beruf unterstützt werden, durch Kooperation und Koordination der Ausbildungsmarkt-Akteure junge Menschen schneller in Ausbildung vermitteln und die Transparenz über Angebote und Maßnahmen in diesem Feld erhöhen sowie Parallel- und Doppelstrukturen vermeiden«. Ein umfangreiches Aufgabenpaket, das nur mit entsprechenden personellen und finanziellen Kapazitäten zu bewältigen ist, das von Berufsschulvertretern aber immer wieder als wünschenswerte und wichtige Unterstützung ihrer Arbeit genannt wird.

Zugehen auf neue Zielgruppen

Ein weiterer, immer wieder genannter Wunsch der Berufsschulen an die Unternehmen ist auch ein aktiverer Umgang mit vermeintlich schwächeren Schülern und Bewerbern. Selbst wenn es den Lehrern im berufskundlichen Unterricht gelinge, diese Schüler zu motivieren und zu stärken, erlebten die Betroffenen bei der Suche nach einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle dann häufig ablehnende Zurückhaltung. Viele Unternehmen, so die Erfahrung der Berufsschullehrer, würden selbst bei Bewerbermangel die Besetzung einer Lehrstelle möglichst lange offenhalten, um bei einer eventuell später eingehenden Bewerbung eines vermeintlich besseren Kandidaten doch noch zugreifen zu können. Den schwächer eingeschätzten Bewerbern werde mehr oder weniger deutlich mitgeteilt, dass sie allenfalls zweite oder dritte Wahl seien und nur dann zum Zuge kämen, wenn sich auch nach längerem Warten niemand anderes findet. »Damit wird alle Motivation und alles Engagement der jungen Leute so gründlich und nachhaltig zerstört, dass unsere Arbeit dann häufig umsonst war«, berichtet eine Fachlehrerin für Wirtschaft von dieser Erfahrung: »Wir sind dazu ausgebildet, auch leistungsschwächere Schüler zur Ausbildungsreife zu bringen, und können diese Herausforderung auch meistern. Aber für einen dauerhaften und nachhaltigen Erfolg brauchen wir dann auch die betriebliche Seite, die diese Schüler aufnehmen und weiter begleiten muss.« Man könne auf Seiten der Wirtschaft nicht immer nur beklagen, dass man keine Auszubildenden finde, sondern müsse sich auch bewegen und die Ausbildungsplätze attraktiv machen für diejenige Klientel, die zur Verfügung stehe – egal, ob es dabei um vermeintlich schwächere oder stärkere Bewerberinnen und Bewerber gehe.
Beide Gruppen seien in den berufsbildenden Schulen vertreten, »aber die Unternehmen gehen häufig nur sehr schematisch an die Stellenbesetzung heran und stoßen damit Schüler außerhalb des Mittelmaßes vor den Kopf«, so die Wirtschaftspädagogin. Sie konstatiert allerdings auch »seit einigen Jahren ein langsames Umdenken«. Immer öfter würden sich Betriebe auf Jugendliche einlassen, die mehr Betreuung und Unterstützung benötigen als andere Bewerber: »Es wird gar nicht anders gehen, als dieses Reservoir an jungen Leuten zu nutzen, und die Diversität der Schüler wird eher größer als kleiner.«

Individualisierung

Die Berufsschullehrerin, die in Berlin lebt und arbeitet, leitet aus dieser Entwicklung eine klare bildungspolitische Forderung ab, die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen auch in anderen Bundesländern unterstützt wird: Weil die Schülerschaft an berufsbildenden Schulen immer heterogener wird, müssen die Schulen mehr Personal und Möglichkeiten erhalten, Schüler individuell und bei Bedarf auch sonderpädagogisch fördern zu können. Die Spannbreite reiche mittlerweile vom 16-jährigen Flüchtlingskind mit rudimentären Deutschkenntnissen bis zur 20-jährigen Abiturientin mit bildungsbürgerlichem Familienhintergrund, von der behinderten Auszubildenden bis zum 22-jährigen Spätzünder, der sich erst nach vielen Umwegen zu einer beruflichen Qualifikationsmaßnahme entschlossen habe. »Der Umgang mit Diversität gilt ja als aktuelle Herausforderung im Bildungssystem«, sagt die Berliner Lehrerin und muss lachen: »Ich bin jetzt deutlich länger als 20 Jahre Berufsschullehrerin, und die Diversität meiner Schüler war damals mit das Erste, was ich wahrgenommen habe.« Für ihr Kollegium wünscht sie sich außerdem die dauerhafte, mit Planstellen abgesicherte Unterstützung durch Sozialpädagogen und durch einen Schulpsychologen, »weil diese Vielzahl von oft auch schwierigen Lebens- und Bildungswegen unserer Schüler eine sehr individuelle Ansprache unerlässlich macht«. Der Leiter eines Berufskollegs in NRW schließt sich dieser Forderung nach einer deutlich besseren und multiprofessionell ausgerichteten Personalausstattung an: Die Berechnung der Lehrerplanstellen nach dem üblichen Betreuungsschlüssel, sagt er, sei für berufsbildende Schulen kaum vertretbar. »Das Land geht von 22 bis 25 Schülern pro Lehrer aus«, sagt der langjährige Schulleiter, »und wenn ich in einer Klasse weniger als 16 Schülerinnen und Schüler habe, dann darf ich diese Klasse gar nicht erst aufmachen.« Das sei die eine, die rechnerische Seite. Pädagogisch-didaktisch aber gebe es einen viel größeren Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern: »Wir haben bei uns mehrere Klassen mit 18 oder 19 Schülern, was auf dem Papier nach einer sehr guten Versorgung mit Planstellen aussieht. In Wirklichkeit aber könnten wir in vielen dieser Klassen sogar noch eine zweite Lehrkraft oder zumindest einen Sozialpädagogen gebrauchen, weil die Schüler so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen – aber das versteht die Politik leider nicht.« Hinzu komme noch der Sachmittelbedarf, der durch die aktuellen Zuweisungen ebenfalls nur unzureichend gedeckt ist: »Theoretisch müssen wir ja permanent auf dem neuesten Stand der Technik sein, um den Schülern die Dinge beibringen zu können, mit denen sie auch im Betrieb und im realen Wirtschaftsleben zu tun haben. Wir stehen hier ja die ganze Zeit unter verschärfter Beobachtung der Industrie.« Doch weil sich die Technologie und die Materialien so schnell weiterentwickeln, sei das nur schwer zu leisten – und schon gar nicht, wenn die Sachmittel seit Jahren nicht erhöht wurden. So habe er selbst eine Unterrichtsstunde mit angehenden Kunststofftechnikern erlebt, in der ein Schüler fragte: »Gibt es eigentlich einen Kunststoff, der sich selbst schmiert?« Die Antwort des Lehrers: »Nein, nicht dass ich davon wüsste.« Daraufhin zog der Schüler ein Stück Kunststoff aus der Tasche: »Hier, damit arbeiten wir bei uns im Betrieb.« Solche Situationen, sagt der Schulleiter, ließen sich natürlich nicht gänzlich vermeiden, müssten eigentlich aber – bei angemessener finanzieller und personeller Ausstattung der berufsbildenden Schulen – die absolute Ausnahme sein.

Personalentwicklung

Noch ein weiterer Wunsch wurde, vor allem auf der Leitungsebene von berufspädagogisch orientierten Schulen, in Richtung der Politik geäußert: die Bitte um eine stärkere Unterstützung der Schulen bei der Rekrutierung von Lehrpersonal. Es könne nicht sein, so die Überzeugung vieler Schulleiter, dass die Berufsschule mitunter als Auffangbecken für ansonsten im Bildungssystem gescheiterte Lehrer verstanden werde – oder als Schulform, der es problemlos zuzumuten sei, pädagogisch nur unzureichend ausgebildete Quereinsteiger in großer Zahl in die Kollegien zu integrieren, weil es nicht genügend sonstige Bewerber für freie Fachlehrerstellen gibt. Quereinsteiger aus der Industrie seien zwar sehr willkommen, benötigten aber gerade zu Beginn ihrer Tätigkeit als Lehrerinnen und Lehrer mehr Betreuung und Unterstützung als Kollegen, die ein entsprechendes Lehramtsstudium und ein Referendariat durchlaufen haben. Diese zusätzliche kollegiale Betreuung aber bindet Ressourcen – und kann deshalb nicht als Allheilmittel gegen den Fachlehrermangel eingesetzt werden, warnen die Berufsschulpraktiker. Und sie wünschen sich öffentlich sichtbare Unterstützung bei der Nachwuchsgewinnung: Wissenschafts- und Schulminister, die symbolisch deutlich machen, wie wichtig das Berufsschullehramt als Studiengang ist und welche Wertschätzung sie ihm entgegenbringen. Denn immer noch, berichten Berufsschullehrer, müssten sie sich im Smalltalk mit anderen Schulpädagogen anhören: »Ich bin richtige Lehrerin, an einem Gymnasium.« Mehrfach wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass Schulpreise und andere Wettbewerbsauszeichnungen viel zu selten auch an berufsbildende Schulen verliehen werden.

Wertschätzung

Aus der Perspektive der Berufsschulen gehört auf die Wunschliste an die Unternehmen noch ein weiterer Punkt, der sich in zwei Aspekte aufgliedern lässt. Dabei geht es um die Wertschätzung der Schulen durch die Industrie. »Wenn ich Treffen und Termine mit einem Ausbilder abspreche, die dann aber immer wieder verschoben werden, weil betriebliche Dinge für ihn jedes Mal Vorrang haben, komme ich mir schon verschaukelt vor«, berichtet ein Techniklehrer aus Wuppertal. Er wünscht sich nicht nur bei öffentlichkeitswirksamen Großprojekten, sondern auch im Rahmen der ganz normalen Ausbildungszusammenarbeit feste Zeitfenster, in denen sich Betriebe und berufsbildende Schulen zusammensetzen und das weitere gemeinsame Vorgehen besprechen. Dies gelte auch für die Vollzeitschüler bei der Kooperation mit Praktikumsbetrieben: »Gerade wenn es nicht um die eigenen Lehrlinge geht, sind viele Unternehmen extrem unwillig, Zeit in die Zusammenarbeit mit uns als Berufsschule zu stecken.« Aber nur mit guter Kommunikation, so der Lehrer weiter, lasse sich der jeweilige Schüler optimal fördern: »Diese Zeit für Kommunikation muss nicht nur ich, sondern auch der Ausbilder oder der Praktikumsbetreuer investieren.« Gleichzeitig verweise der Umgang eines Unternehmens mit den kooperierenden Berufsschulen auch auf einen zweiten Aspekt: darauf nämlich, wie wichtig das Thema Ausbildung innerhalb des Betriebs genommen wird. Denn auch dort müsste, sind sich die meisten Berufsschullehrer einig, ein Kulturwandel einsetzen, wie er zwar vor allem in größeren Betrieben schon zu beobachten sei, in kleineren jedoch erst verzögert zur Geltung komme. Ein Kulturwandel, bei dem das Ansehen und die Bedeutung der Ausbildung gestärkt werden – und damit ein Betriebsklima entstehe, in dem Auszubildende nicht als günstige Arbeitskräfte verstanden werden, die sich in den zwei oder drei Jahren ihrer Ausbildung schon irgendwie von selbst in den Betriebsablauf einfinden und möglicherweise als zukünftige Mitarbeiter hängenbleiben.

Schule mit anderem Anspruch

»Als die früheren Berufsschulen zu Berufskollegs erweitert wurden, stand dahinter ja eine umfassende pädagogische Idee«, sagt Matthias Herwartz vom Goldenberg Berufskolleg in Hürth. Die Idee nämlich, das Lernen im Bereich der Berufsbildung anders und besser zu organisieren: allgemeine und berufliche Bildung sollten auf gesellschaftlich relevante und auf dem Arbeitsmarkt nutzbare Weise verschmolzen werden, die Schüler dafür eine differenzierte, auf ihre Bedürfnisse abgestimmt parallele Qualifizierung in beruflicher und in allgemeinbildender Hinsicht durchlaufen. Praxisnähe und Bildungsanspruch, Erziehung zur Mündigkeit und handfeste Qualifikationen sollten dabei Hand in Hand gehen – auch wenn der Kolleg-Gedanke vom Lernen auf Augenhöhe und mit relevantem Curriculum politisch nie wirklich so umgesetzt wurde, wie er einmal gedacht gewesen war. Stattdessen wurden die Berufskollegs, die in fast jedem Bundesland anders heißen, zur schulischen Resterampe – eine Positionierung, mit der sich Matthias Herwartz nie abfinden wollte.
»Vom Selbstverständnis her sind wir so etwas wie die Oberstufe der Real- oder Sekundarschule«, sagt der Schulleiter und verweist auf den Weg zum Abitur, der prinzipiell jedem Schüler einer berufskundlichen Schule offensteht. Dieser Fakt ist im Wettbewerb der Bildungsanbieter ein wichtiges Argument für die Attraktivität der Berufsschulen, denn Studien zeigen: Jugendliche und ihre Eltern finden einen Bildungsweg besonders dann attraktiv, wenn dieser die Option zu einer weiterführenden Qualifikation möglichst lange offenhält. Genau das aber machen die Berufsschulen: Durch das differenziert abgestufte Instrumentarium an Bildungswegen, die untereinander in den meisten Fällen anschlussfähig sind, bieten sie den Schülerinnen und Schülern genau diese lang andauernde Option weiterer Qualifikation.
So wie bei Denis (Name geändert), der die Hauptschule nach der 9. Klasse ohne Abschluss verlassen und sich »ohne echten Willen«, wie er selbst im Rückblick sagt, um eine Lehr- oder Arbeitsstelle bemüht hatte. Seine Bewerbungsschreiben waren lustlos, und als er trotzdem zum Vorstellungsgespräch als Hilfsarbeiter in einem Gartenbaubetrieb eingeladen wurde, »da habe ich den Termin einfach sausenlassen, weil ich keinen Bock hatte«. Denis landete im Übergangssystem – und erarbeitete sich über ein Berufsvorbereitungsjahr überhaupt erst einmal die Ausbildungsreife. »Er hat dann die Berufsfachschule angeschlossen und, nach einigen Schwierigkeiten, die Fachoberschulreife erlangt«, berichtet einer seiner Lehrer. Mittlerweile hat er den Hauptschulabschluss der 10. Klasse nachgeholt und eine Lehre als Heizungsbauer begonnen. »Ich bin total stolz, dass ich das geschafft habe«, sagt Denis. Ob er damit seinen Traumberuf gefunden hat? Er nickt – und sagt dann: »Das ist schon gut. Aber wenn ich will, kann ich danach noch die Fachhochschulreife machen oder vielleicht irgendwann auf die Meisterschule gehen.« Festlegen will er sich noch nicht – und muss es auch nicht, weil das Berufskolleg, das er in Nordrhein-Westfalen besucht, ihm im Beratungsgespräch deutlich gemacht hat, dass es immer noch weitere Wege der Qualifizierung gibt, die er bei Interesse beschreiten kann.
Doch diese abgestuften Optionen und Aufstiegschancen sind vielen Eltern und sogar Schülern, erst recht aber Außenstehenden völlig unbekannt, sagt der Hürther Schulleiter: »Viele Eltern kommen irgendwann zu uns und sagen: Wenn ich gewusst hätte, was Sie alles anbieten, hätte ich mein Kind bei Ihnen angemeldet.« Oft gebe es dann bereits etliche schlechte Erfahrungen in anderen Schulformen und schulische Umwege, die so nicht nötig gewesen wären.
Aktuell sehen sich die Berufsschulen einem zunehmenden Wettbewerb mit anderen Schulformen ausgesetzt – erste Vorzeichen eines immer stärker werdenden Kampfs um die Schülerinnen und Schüler. Denn die demografische Entwicklung i...

Table of contents

  1. Vorbemerkung
  2. Berufsschule in der Krise
  3. Unterschätzt und leistungsfähig
  4. Ein langer, schwerer Weg
  5. Dual und mit Abitur
  6. Motor und Ideengeber
  7. Der Blick nach vorn
  8. Schematischer Überblick über die Besonderheiten der Systeme der beruflichen Bildung in den einzelnen Bundesländern
  9. Literatur
  10. Über die Autoren
  11. Impressum
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APA 6 Citation

Blaß, K., & Himmelrath, A. Berufsschulen auf dem Abstellgleis (1st ed.). Körber-Stiftung. Retrieved from https://www.perlego.com/book/988744/berufsschulen-auf-dem-abstellgleis-wie-wir-unser-ausbildungssystem-retten-knnen-pdf (Original work published)

Chicago Citation

Blaß, Katharina, and Armin Himmelrath. Berufsschulen Auf Dem Abstellgleis. 1st ed. Körber-Stiftung. https://www.perlego.com/book/988744/berufsschulen-auf-dem-abstellgleis-wie-wir-unser-ausbildungssystem-retten-knnen-pdf.

Harvard Citation

Blaß, K. and Himmelrath, A. Berufsschulen auf dem Abstellgleis. 1st edn. Körber-Stiftung. Available at: https://www.perlego.com/book/988744/berufsschulen-auf-dem-abstellgleis-wie-wir-unser-ausbildungssystem-retten-knnen-pdf (Accessed: 14 October 2022).

MLA 7 Citation

Blaß, Katharina, and Armin Himmelrath. Berufsschulen Auf Dem Abstellgleis. 1st ed. Körber-Stiftung. Web. 14 Oct. 2022.