III. Ein Entwurf kriterialer Verantwortung im Rahmen theologischer Tierethik
Die Diskussion der vorliegenden Modelle zu tierethischen Ăberlegungen fĂŒhrt in Summe zu erheblichen Kritikpunkten, sie erscheinen zumindest in Teilen unbrauchbar, eine nachvollziehbare, konsistente, vertretbare Tierethik zu begrĂŒnden.
Die Hauptkritik lĂ€sst sich auf zwei Ebenen bĂŒndeln: ZunĂ€chst entwickelt keiner der vorgestellten AnsĂ€tze eine logisch unangreifbare Kriteriologie. Eine anthropozentrische Argumentation im Kantâschen Sinne erscheint als zu schwach, das bei Schopenhauer vorgestellte (und bei Ursula Wolf modifiziert aufgegriffene) Konzept einer Mitleidsethik als zu vage, um als Grundlage einer abstrahierbaren Ethik zu gelten. Gleiches gilt fĂŒr Schweitzer, dessen Ansatz der Ehrfurcht vor dem Leben als Gesinnungsethik verstanden werden muss, die kaum ĂŒber das Dilemma der konkreten Situation hinausweist.
Die pathozentrische Argumentation Peter Singers scheitert grundlegend daran, dass sie letztlich nur eine Verschiebung der âbiologischen Hierarchieâ erreicht; statt der Unterscheidung âMensch oder Tier?â wird die Frage aufgeworfen, ob PersonalitĂ€t zugesprochen werden kann. Die dadurch auftretenden immensen Folgen fĂŒr die Abwertung bestimmter, als âdefizitĂ€râ gesehener Menschen ist nicht nur mit christlicher Anthropologie nicht in Einklang zu bringen, sondern auch fĂŒr die gerade bei pathozentrisch argumentierenden Autoren so oft in die Diskussion gefĂŒhrte âIntuitionâ des Menschen â auĂerhalb der Tierrechtsdiskurse im engeren Sinne â kaum nachvollziehbar. Es ĂŒberrascht, dass Singer das Potenzial zu schĂ€rfster Kritik an den praktischen Konsequenzen seiner Ethik offenbar kaum erahnt hat. Trotz des von ihm eingefĂŒhrten Moments des âinhĂ€renten Wertsâ verfĂ€ngt sich Regan letztlich mit seiner Unterscheidung von âmoral agentsâ und âmoral patientsâ in derselben kritikwĂŒrdigen Klassifizierung wie Singer.
Die pathozentrisch angelegten Argumentationen Jean-Claude Wolfs und Ursula Wolfs bergen das Problem, dass sie kriteriologisch durch die Vermeidung der Personenfrage kaum nachvollziehbar erscheinen lassen, weshalb die reduzierte pathozentrische Argumentation auch fĂŒr Tiere gelten solle; das bei Ursula Wolf von Schopenhauer aufgegriffene Element des Mitleids vermag dieses Defizit nur bedingt auszugleichen.
DarĂŒber hinaus findet sich eine zweite Ebene der Kritik, die gegen alle vorgestellten AnsĂ€tze gemeinsam anzufĂŒhren ist: Letztlich schaffen sie es, wie in den entsprechenden Kapiteln dargelegt, nicht, eine tatsĂ€chliche Ăberwindung der Anthropozentrik zu erreichen; die postulierte Ausrichtung auf eine pathozentrische Argumentation lĂ€sst sich weder bei Regan noch bei Jean-Claude Wolf oder Ursula Wolf nachweisen â und eben auch nicht bei Singer, der sich in seiner Orientierung am gesunden, erwachsenen Menschen dem von ihm eingebrachten Vorwurf des Speziezismus auch mit seiner eigenen Ethik aussetzen muss. Am deutlichsten scheint das Problem bei Schweitzer zu bestehen, dessen in der Regel als biozentrische Ethik rezipierter Entwurf kaum als solcher aufgefasst werden kann; immerhin muss Schweitzer zugestanden werden, dass er selbst eine solche Einordnung nicht vornimmt. Wie schwer die vorgebrachte Kritik an einer nur vermeintlichen Ăberwindung der Anthropozentrik wiegt, ist zweifelsohne eine Frage der AbwĂ€gung: Es ist auf den ersten Blick nur eine Frage von Nuancen, zwischen diesem Vorwurf und einer fĂŒr alle menschliche Ethik geltenden AnthroporelationalitĂ€t zu unterscheiden. Gerade in der NichtberĂŒcksichtigung dem menschlichen Verstehen zunĂ€chst entzogener, vollkommen anders organisierter Lebenswirklichkeit und Weltwahrnehmung von Tieren scheint jedoch ein starkes Argument zu liegen, auch den pathozentrisch argumentierenden Ethikern den âVorwurfâ der Anthropozentrik machen zu mĂŒssen: Schimpansen und andere GroĂe Menschenaffen kommen lediglich menschlicher Intelligenz und Konstitution am nĂ€chsten.
Daraus ergibt sich die entscheidende Frage, ob eine Tierethik, auch wenn sie ĂŒber das Modell lediglich indirekter Pflichten oder einzufordernden Mitleids hinauszureichen strebt, zwangslĂ€ufig zunĂ€chst anthropozentrische Denkweisen ĂŒberwinden muss, wie es in den Tierrechtsdiskursen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte scheinbar erste PrĂ€misse ist. Diese Arbeit verneint dies.
FĂŒr die Entwicklung einer gewinnbringenden Tierethik ist neben einer Orientierung an den in den biblischen Texten geĂ€uĂerten Annahmen ĂŒber die Beziehung von Mensch und Tier eine Ausrichtung an einem Modell kriterialer Verantwortung grundlegend. Bereits Ursula Wolf hat mit ihren AusfĂŒhrungen dem Anspruch einer absoluten Ethik im Hinblick auf die Tierethik prinzipiell eine Absage erteilt; sowohl die Fragen der Tierhaltung, als auch die Ausgabe von Handlungsmaximen im Konflikt von Mensch und Tier bzw. ihre Konkurrenz um Ressourcen wie Raum oder Nahrung können kaum abschlieĂend und allgemein gĂŒltig bewertet werden. Wo differierende Wirklichkeiten ernst genommen und so ein Transfer in den praktischen Vollzug ermöglicht werden soll, muss die Basis aus einer relativen, der Situation angemessenen Ethik bestehen.197 HierfĂŒr eignet sich das Modell der Verantwortungsethik nach Dietrich Bonhoeffer. Um zugleich den AnsprĂŒchen an eine stringente und zugleich umsetzbare Kriteriologie zu genĂŒgen, soll diese in zwei weitere systematisch-theologische Betrachtungen eingebettet werden: Der Ethik Hans Jonasâ wird das Motiv der Verantwortung entlehnt, das als formales Feld die Grundlage des Ethikentwurfs bilden soll. In einem nĂ€chsten Schritt werden dann Kriterien aufgestellt, anhand derer das entwickelte Verantwortungsmoment konkretisiert wird. Hierzu wird aus der Theologie Karls Barths, fĂŒr Bonhoeffer auch zeitgenössisch wichtiger Referenzpunkt, das Motiv des Gebots als OrientierungsmaĂstab herangezogen.
In einem weiteren Schritt gilt es dann zu klÀren, auf welches ethische Gut sich die entwickelte Kriteriologie ausrichtet; es wird eine Differenzierung zwischen Tierschutz und Artenschutz, also der Verfolgung von Interessen des Individualtierschutzes oder des Schutzes von BiodiversitÀt, vorgenommen, kritisch hinterfragt und im Hinblick auf ihre materiale Anwendbarkeit gegen bestimmte Sachthemen der Tierethik abgegrenzt.
III.1. Biblisch-Theologische Grundannahmen fĂŒr eine Tierethik
Da die vorliegende Arbeit den Entwurf einer theologischen Tierethik darstellen soll, gilt es im Folgenden zunÀchst, biblisch-theologische Grundannahmen einer Tierethik herauszuarbeiten, wie sie vor allem im Alten Testament zu finden sind.
DarĂŒber hinaus soll so aufgezeigt werden, dass es sich bei einem ethischen Einbezug der Tiere in systematisch-theologische Diskurse nicht um die BeschĂ€ftigung mit einem mĂŒhsam konstruierten, insgesamt jedoch randstĂ€ndigen Thema handelt, sondern dieser stattdessen einen Nachvollzug solider Grundlegungen der biblischen BĂŒcher bedeutet. Tiere werden in den Texten der Bibel als eigenstĂ€ndige theologische GröĂe vermittelt, denen â auch, aber nicht ausschlieĂlich â im VerhĂ€ltnis zum Menschen eine wichtige Bedeutung beigemessen werden muss.198
Die nachfolgenden Darstellungen zum Alten und Neuen Testament können und sollen keinesfalls den Anspruch einer eigenstĂ€ndigen exegetischen Arbeit erheben. Grundlage fĂŒr die AusfĂŒhrungen ist im Wesentlichen der von Bernd Janowski, Ute Neumann-Gorsolke und Uwe GleĂmer herausgegebene Band âGefĂ€hrten und Feinde des Menschen.â199 Hier lassen sich grundlegende BeitrĂ€ge zu diesem Thema finden, ergĂ€nzt um die Darstellung ausgewĂ€hlter Motive und Materialien sowie ausgewĂ€hlte Tiertexte des Alten Testaments. WeiterfĂŒhrend sei auch auf das in dem Band enthaltene, von Peter Riede zusammengestellte Glossar der hebrĂ€ischen und aramĂ€ischen Tiernamen und Tierbezeichnungen verwiesen.
Im Folgenden soll also der Schwerpunkt auf der Betrachtung einschlĂ€giger Textstellen des Alten Testaments liegen, ergĂ€nzt um eine gesonderte ErwĂ€hnung des sog. âTierfriedensâ in der Eschatologie des Propheten Jesaja sowie einen abschlieĂenden Blick auf das Neue Testament.
III.1.1. Alttestamentliche Aussagen als Grundlagen einer Tierethik
Entgegen der weit verbreiteten Annahme, Tiere seien als Thema in den biblischen Schriften und damit in der christlichen Theologie eher am Rande einzuordnen, hÀlt Othmar Keel fest:
âTiere sind in der hebrĂ€ischen Bibel allgegenwĂ€rtig. Es dĂŒrfte etwas ĂŒberspitzt formuliert auf ihren rund 1000 Seiten kaum eine geben, auf der nicht in irgendeinem Zusammenhang Tiere erwĂ€hnt werden.â200
Es ist nicht unproblematisch, die biblischen Texte fĂŒr den Entwurf einer gegenwĂ€rtigen Tierethik heranzuziehen; zwei- bis dreitausend Jahre alte Schriften sind in einem fundamental anderen Kontext entstanden, der von ökologischer Krise im heutigen Sinne weit entfernt war und eine PrĂ€gung durch moderne Technik und naturwissenschaftlichen Zugriff auf die Welt nicht kannte. Dennoch findet sich neben diesem Abstand auch eine NĂ€he, die sich in konstanten, scheinbar grundlegenden und kontextĂŒbergreifenden Naturerfahrungen des Menschen spiegeln.201
Das VerhĂ€ltnis von Mensch und Tier, wie es sich auch in den Texten des Alten Testaments niederschlĂ€gt, kann historisch gesehen fĂŒr alle vormodernen Epochen als im Vergleich zur Neuzeit und speziell unserer Gegenwart deutlich intensiver charakterisiert werden. HierfĂŒr lassen sich verschiedene BegrĂŒndungszusammenhĂ€nge finden: Einerseits waren wild lebende Tiere schlicht âhĂ€ufigerâ, ihre Populationen oft deutlich gröĂer, ihre Verbreitungsgebiete ausgedehnter;202 wild lebende Tiere stellten zudem eine potenziell deutlich gröĂere Gefahrenquelle fĂŒr den Menschen dar, als dies unserem gegenwĂ€rtigen Erfahrungshorizont entspricht.
FĂŒr domestizierte Haus- bzw. Nutztiere muss festgehalten werden, dass sie nicht nur hĂ€ufig deutlich enger mit dem Menschen zusammenlebten, sondern auch viel existenzieller fĂŒr dessen physisches Ăberleben von Bedeutung waren; der Verlust eines Nutztieres ist in einer Subsidienzwirtschaft auch heute noch kaum zu bemessen.203
Diese beiden grundlegende BezĂŒge zum Tier â eben als âGefĂ€hrten und Feinde des Menschenâ, wie Janowski et. al. ihren Band (s.o.) betiteln â umreiĂen den ambivalenten Erfahrungskontext, in dessen Rahmen sich Mensch und Tier in vormodernen Zeiten befanden. Immer jedoch sind Tiere fĂŒr die Menschen der biblischen Schriften relationale Lebewesen.
Letztlich ist auch in den Blick zu nehmen, wie Tiere als Bild, als aufgeladenes Symbol Ein...