Über Musik
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Über Musik

Mozart und die Werkzeuge des Affen

Nikolaus Harnoncourt, Alice Harnoncourt, Alice Harnoncourt

  1. 174 pages
  2. German
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Über Musik

Mozart und die Werkzeuge des Affen

Nikolaus Harnoncourt, Alice Harnoncourt, Alice Harnoncourt

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Gedanken des großen Meisters über das Hören und Musik-Verstehen.Die Grundprinzipien von Nikolaus Harnoncourts musikalischer Praxis machten ihn in der gesamten Musikwelt berühmt. Er hat mit seinem Ensemble Concentus Musicus alte Traditionen gebrochen und die Interpretation Alter Musik neu zugänglich gemacht. Das war nicht nur das Ergebnis seiner intensiven Beschäftigung mit dem Klang der Originalinstrumente, sondern vor allem einer Infragestellung der üblichen Hörgewohnheiten: Was ist Musik überhaupt, wie wirkt sie und wie ist sie von ihren Schöpfern gemeint? Harnoncourts Texte über Aufführungspraxis, Barockmusik oder Instrumente wie das Cembalo lesen sich wie beredtes Musizieren. Eine wundersame Reise durch die Musikgeschichte!

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Information

Zeitgeist, Mode und Wahrheit

Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, Juli 1995

Wir sind gut trainiert im Eigenlob. Jubiläen sind meist Jubelveranstaltungen. Weiter bringt uns das nicht. – Kritische Überlegungen können weniger festlich sein, sie können aber mehr bewirken.
75 Jahre, 50 Jahre, da gibt es einiges zu bejubeln, zu bedenken, zu fragen. Die Bedeutung und Rolle der Kunst – ihre Verquickung mit Politik –, ihre mögliche Wirksamkeit. Wem dient sie? Gibt es eine die Zeiten überdauernde künstlerische Wahrheit? Was ist Wahrheit?
Die Kunst ist eine andere Sprache, immer jenseits des Praktischen, vielfach jenseits des Logischen; eine ihrer Denkgrundlagen ist die Phantasie, vielleicht das »Denken des Herzens«, wie es Pascal der Logik, dem »arithmetischen Denken« gegenüberstellt. Zwei Denkweisen, die in unserer Kultur früher selbstverständlich nebeneinander existierten, ineinandergriffen, einander belebten. Die Kunst war früher eine selbstverständliche, notwendige und natürliche Äußerung. Heute könnte man sich fragen, ob etwas so Unnatürliches, Unnützliches wie die Kunst in unserer von der siegreichen Logik dominierten Welt überhaupt noch einen Platz hat. Man kann nicht erklären oder verstehen, warum es so etwas geben muß; warum wir das Wunderbare brauchen, das Transzendentale – das die Begriffe Übersteigende.
Ja oder nein, 1 oder 0, die radikale Sprache der Logik scheint nun zu unserer Denkgrundlage zu werden. In einem jahrhundertelangen Prozeß, der zu immer »klareren«, »unmißverständlichen« Formulierungen geführt hat, wird unserer Sprache der Zweifel ausgetrieben. Alles, was wir sagen, ist nun entweder richtig oder falsch, gut oder schlecht. – Das Gespräch, die alte Form der suchenden Einkreisung von Gedanken und Ideen, und mit ihm der Reichtum der Sprache, verschwindet nach und nach.
Es ist unnötig geworden. Dafür gibt es auf der einen Seite das juristisch-bürokratische Argumentieren, das klar und amoralisch zum Ja oder Nein führen muß; oder, auf der anderen Seite, das Brabbeln aus allen Medien, den »Small talk«, die nichtssagende Unterhaltung.
Wie froh müssen wir sein, solange man uns die magischen Sprachen, die ohne Worte, nicht nehmen kann: die Musik, die Architektur, die bildende Kunst – und natürlich auch die Dichtung. – Hier lebt noch das Phantastische, hier gibt es noch Zweifel, Vielschichtiges, Vieldeutiges.
Der Künstler ist seit jeher eine Art Seismograph der geistigen Situation seiner Zeit; seine Werke nehmen Stellung zum Allgemeinen, sie sind kaum von seinen persönlichen Lebensumständen diktiert. – Ein Künstler, der uns in seinen Werken seine private Autobiographie aufdrängt, verrät die Kunst; es ist Teil seiner Professionalität, das künstlerische Schaffen vom Privatleben zu trennen. Mozart schreibt auch in persönlich sehr traurigen Situationen, etwa nach dem Tod seiner Mutter oder dem seines Vaters, ohne weiteres heitere Musik, andererseits spiegeln auch traurige Werke, wie etwa das Todesquartett im Idomeneo (Nr. 21, Andrò ramingo e solo), absolut keine traurige Lebenssituation. – Oder: Die persönliche Religiosität eines Künstlers ist auch an den größten Werken religiöser Kunst nicht ablesbar – sie können durchaus von areligiösen Künstlern geschaffen werden, denn kein Künstler kann mit seiner Kunst aus seiner Zeit heraustreten, er spiegelt stets ihre Situation und ihr Klima – die geistige Situation der Zeit ist es, die bewußt oder unbewußt dargestellt wird.
Dies mag einer der Gründe sein, warum etwa deutsche oder italienische Bauten der dreißiger und vierziger, aber auch noch der fünfziger Jahre – leider auch hier in Salzburg – eine so beklemmende Ausstrahlung haben; selbst dann, wenn sie von antifaschistischen Architekten errichtet wurden. Sie demonstrieren die damals herrschende Gesinnung, und sie erinnern uns hart an diese Zeit.
Ist der Künstler also einerseits untrennbar dem Zeitgeist verpflichtet, so ist er doch – scheinbar im Widerspruch zum eben Gesagten – in seiner künstlerischen Aussage stets souverän. Weder sein Auftraggeber noch sein Mäzen kann, über das Äußerliche hinaus, Einfluß auf das Werk nehmen. Die großen Auftraggeber aller Zeiten haben das offenbar verstanden und gewollt oder wenigstens toleriert. – Die Kunst kann ihre Aufgabe, den geistigen Zustand ihrer Zeit zu spiegeln und dabei stets Opposition und Widerpart zum Status quo zu sein, prinzipiell nicht verraten, denn kaum versucht ein Künstler dem Auftraggeber auf Kosten seines inneren Auftrages zu willfahren, hört sein Schaffen auf, Kunst zu sein. Kunst ist unbestechlich, sie läßt sich nicht korrumpieren.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß die Mächtigen aller Zeiten die Künstler förderten und ihr Wirken anregten, obwohl sie gefährliche Kritiker waren. Es scheint eben ein unbewußtes Einverständnis darüber zu geben, daß eine Idee erst in der Durchleuchtung auch der Gegenposition vollständig ist. Kunst war in unserer Kultur ja immer Auftragskunst, und dennoch ist der wahre Künstler niemals käuflich. – Betrachten wir die Werke der Komponisten, Maler, Dichter, die im Dienste der geistlichen oder weltlichen Macht arbeiteten: etwa die Fresken Michelangelos, die Bilder Goyas, die Symphonien Haydns, die Opern Mozarts, die Theaterstücke Molières und Shakespeares. Da die Aussage von Kunstwerken subversiv, also nur selten greifbar ist, ist sie besonders wirksam. – Das ohnmächtige und lächerliche Wirken von Zensur konnte die Kunst niemals wirklich ersticken. Dort, wo Machthaber tatsächlich Künstler zu Mitläufern deformieren konnten, wurde auch deren Kunst deformiert: etwa in Hitlers oder Stalins Machtbereich. Sie hat in ihrem bedingungslosen Zustimmungs-, ja Propagandacharakter ihr Profil verloren. Sie hat sich selbst aufgelöst, indem sie zur Staatskunst wurde. – Es ist bezeichnend, daß derartige totalitäre Systeme die oppositionelle Kunst stets verteufeln und die Künstler unterdrücken. – Die Diktatur muß sich ja der Kunst bemächtigen, denn diese spricht eine unangreifbare Sprache, gegen die man nicht argumentieren kann, sie dringt ein durch die Augen, die Ohren, das Gemüt; unbekämpfbar und gefährlich.
Kehren wir zur fünfundsiebzigjährigen Geschichte dieser glanzvollen Festspiele zurück, sie ist ja zugleich mahnende Geschichte der Bedeutung und der versuchten Benutzung der Kunst in diesem Jahrhundert. – Die ersten vierzehn Jahre waren geprägt von den Gründern Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss, Alfred Roller, Franz Schalk, später Bruno Walter und Arturo Toscanini – großen schöpferischen Persönlichkeiten, die die Festspiele zu einem einzigartigen und durchaus kreativ-konfliktreichen Ort der künstlerischen Auseinandersetzung und Begegnung machten. Doch wurde schon ab 1933 von Deutschland aus versucht, sie politisch zu benutzen und zu beeinflussen: die Nazis boykottierten sie und verspotteten deren »jüdisch kosmopolitische Fratze«. An den Festspielen teilzunehmen, sagte man in Deutschland, »läuft der Politik des Führers Österreich gegenüber zuwider«. Vielen von den Nazis kontrollierten und auch irgendwie abhängigen Künstlern wurde die Teilnahme verboten, Furtwängler und Richard Strauss sagten »… im politischen Interesse« ab, bitter bemerkte man in Salzburg, Strauss »… habe seinem eigenen Kind nicht die Treue gehalten«. Pfitzner sagte ab, weil Salzburg, wie er schrieb, »… gegen das erwachende Deutschtum, zu dem ich mich voll und ganz bekenne«, vorgehe. Dann 1938, nach dem sogenannten »Anschluß« Österreichs, änderte sich das Bild schlagartig: Die jüdischen Künstler und diejenigen, die aus ethischen Gründen nicht mitmachten, mußten ersetzt werden. Das Reichspropagandaministerium übernahm die Verantwortung für die Festspiele und brüstete sich, man habe seit Ende März »… ein völlig verjudetes Programm auf den Kopf stellen müssen …« Statt Max Reinhardt, Bruno Walter, Arturo Toscanini, Fritz Busch, Otto Klemperer, Herbert Graf, Bernhard Paumgartner, Lotte Lehmann und anderen ist nun eine neue Interpretengruppe am Werk. Die Festspiele sollten die kulturelle Kompetenz der Nazi-Herrschaft vor der Welt demonstrieren, deshalb wolle man, »… bei aller Betonung des Deutschen, entscheidenden Wert auf deren internationalen Charakter …« legen. Die deutsche Presse sollte »… eine Art Trommelfeuer für Salzburg unternehmen und das gesamte deutsche Volk aufrufen, ›die Sache Salzburgs‹ zu seiner eigenen Sache zu machen«.
Es ist möglicherweise unzulässig, das Verhalten der damals auftretenden Künstler aus heutiger Sicht zu kritisieren, wir müssen aber erkennen, daß die Nazis das internationale Ansehen der ihnen gehorchenden Künstler schamlos benutzten: Wo so Musik gemacht wird, wo solche Schauspieler die Klassiker spielen, da müssen wohl auch die ethischen Standards die höchsten sein. – Das Land Bachs, Hölderlins, Goethes und Mozarts verbarg seine barbarischen Pläne hinter dem Glanz seiner Kultur. Das wirkliche Antlitz der Diktatur wurde dadurch verborgen und verschleiert, daß die weltberühmten deutschen und österreichischen Musiker hier Beethoven und Brahms zelebrierten (natürlich nicht Mendelssohn und auch keine Moderne). Viele der besten Künstler haben mitgemacht – sie erkannten offenbar nicht, wie sehr sie damit zum internationalen Ansehen des Nazismus beitrugen. Das Mitmachen zahlreicher Geistesgrößen hat sicherlich viel zur Stärkung des Regimes und zur Schwächung des Widerstandsgeistes beigetragen.
Jetzt, im nachhinein, vielleicht als eine Lehre aus dem Geschehen, müssen wir sagen: Ebenso, wie kein schaffender Künstler sich mißbrauchen läßt, ohne dadurch seine Kunst zu verraten, hätten wohl auch alle nachschaffenden Künstler – Musiker und Theaterleute – verstummen müssen oder weggehen, und nicht, wie viele unter ihnen, kriecherische und begeisterte Ergebenheitsadressen verfassen. – Je größer der Name, desto größer die Verantwortung. – Kunst und Künstler können dem Totalitarismus zu Ansehen verhelfen, das wissen wir jetzt. Nur ganz wenige wußten das damals schon; einer der größten von ihnen war Toscanini, der sich weigerte, im faschistischen Italien Musik zu machen – der zwischen 1934 und 1937 einer der prägenden Gestalter der Salzburger Festspiele war, der sich aber noch vor dem Einzug der Nazis bedingungslos zurückzog, als der österreichische Bundeskanzler mit Hitler verhandelte.
In den Jahren der Nazizeit überlebten die Salzburger Festspiele nicht sehr ruhmreich als Megaphon des Propagandaministers. Es fällt auf, daß Beethovens Fidelio und seine Neunte Symphonie damals immer wieder gespielt wurden. Fast diabolisch feinfühlig erkannte man das Agitatorische in der Musik Beethovens, das sich so vielfältig umdeuten läßt. – Diese beiden Werke konnte und kann man ja auch bei vielen anderen Gelegenheiten mißbraucht hören: zum Anschluß Österreichs, zum Kriegsbeginn, zur Kriegsbegeisterung, zum Kriegsende, zu jedem Umsturz, zu jeder Wende in jeder denkbaren Bedeutungsverfälschung. Verfälschte »Wahrheit« – die Neunte Symphonie ist eben kein vordergründiger Triumphgesang, sondern stellt eine schmerzhafte Wegsuche aus Chaos und Ratlosigkeit dar. – Fidelio ist kein Befreiungs- oder Unterdrückungsdrama, sondern ein Hohelied auf die alles überwindende Liebe.
Ich habe vor ungefähr vierundfünfzig Jahren hier ein Konzert im Festspielhaus erlebt und erinnere mich an herrliche Musik – im Saal, der vom »Reichsbühnenbildner« Benno von Arent auf weißes »Mozart-Rokoko« verkitscht war, saßen vorwiegend Menschen in Uniformen: verwundete Soldaten, Rotkreuzschwestern, goldbraune Parteibonzen, SS-Männer, Männer der Organisation Todt, des Reichsarbeitsdienstes, dann Rüstungsarbeiter und die Leute, die von der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« herangekarrt worden waren. Im ganzen eine beklemmende Erinnerung: Festspiele im Dienste des Krieges, zur Förderung des Genesungswillens, des Arbeitswillens, einer vordergründigen Lebensfreude, die vom Grauen und vom Verbrechen ablenken sollte. Ich weiß nicht mehr, was gespielt wurde, aber wenn ich die damaligen Programme durchsehe, vermute ich, daß es sogenannte heitere Musik der Strauß-Familie war. Da diese Musik für den Aufbau einer positiven Stimmung unbedingt gebraucht wurde, unterschlug man sogar die jüdische Herkunft von Strauß. – Hitler hatte angeordnet, daß in Salzburg die heitere, unbeschwerte Kunst dominieren sollte. – Lehár dirigierte hier eigene Werke, die Exlbühne aus Innsbruck spielte Bauernschwänke – Mozart mußte auf einen Rokoko-Apoll umgedeutet werden – so zierte er auch das Plakat der Festspiele –, laut Anordnung mußte »das Düstere …«, nämlich die dunkle Holzverkleidung im Festspielhaus, einer »Grundstimmung beschwingter Freude, graziösen Humors und Heiterkeit« weichen. Der Reichsbühnenbildner hatte mit weißem Gips und Stuck Pseudobarock herzustellen. Es ist bezeichnend, daß das Propagandaministerium den urigen Stil des damaligen Festspielhauses, wie er den Nazis für andere Zwecke durchaus vertraut und willkommen war, für ihre tänzelnd-heiter verharmlosende Mozart-Auffassung nicht akzeptierte. Hier in Salzburg sollte man vergessen und genießen.
Nach dem Krieg errichtete man dieses große Haus hier, die glänzende Spielstätten für das Auftrumpfen und Vergessen der Nachkriegszeit – auf der Strecke blieb das so wichtige, bescheidene Haus für Mozart, auf das wir hier noch immer warten.
Wir müssen versuchen, diese Jahre vor dem Vergessen zu bewahren – eine geradezu unmögliche Aufgabe, denn der Mensch hat eine unbegreifliche Eigenschaft hinsichtlich seiner Vergangenheit und Zukunft: Er kann nicht aus der Geschichte lernen. Er glaubt nicht wirklich, was er nicht am eigenen Leib erfahren hat. – Das ist es, was uns im Umgang mit unserer Vergangenheit Angst machen muß. Ebenso geht es uns auch hinsichtlich der Zukunft: Fundierte Warnungen vor drohendem Unheil hören wir, finden sie auch beachtenswert, aber wir ziehen keine Konsequenzen. – Die Zukunft gibt es für uns erst, wenn sie da ist, die Katastrophe trifft uns immer unvorbereitet – auch wenn wir sie lange vorher hätten erkennen können.
Von dieser pessimistischen Zeitbetrachtung möchte ich auf ein anderes Zeitphänomen kommen, den Zeitgeist, einen nahen Verwandten der Mode. Er scheint eine vage, im Prinzip nicht existente Erscheinung von großer Macht zu sein. Er zwingt uns, heute so, morgen anders zu denken; das, was wir gestern schön und richtig fanden, heute lächerlich und falsch zu finden. Man könnte diesem Zeitgeist durchaus auf die Spur kommen, Sinn und Gesetzmäßigkeit in seinem Schwanken finden – aber das will man gar nicht, man will immer wieder kollektiv auf ihn hineinfallen, wie in der Mode – ja, man kann ihn geradezu mit der Mode vergleichen. Wir könnten beispielsweise an irgendeinem Kunstwerk das Wirken des Zeitgeistes durch die Jahrhunderte verfolgen: wie es zuerst berühmt und hochgeschätzt, dann wieder verworfen wird, um später in höchste Höhen aufzusteigen. – So könnten wir etwa auch das Auf und Ab in der Wertschätzung von Mozarts Così fan tutte verfolgen: Diese Oper, heute ein Inbegriff der Vollkommenheit, wurde schon kurz nach ihrer Entstehung, als in jeder Hinsicht mißglückt, abgelehnt. Später versuchte man, wenigstens ihre Musik zu retten, indem man eine neue Handlung darüberstülpte – eingreifende Bearbeitungen (vom Zeitgeist diktiert) veränderten das Stück mehrmals. Noch vor dreißig Jahren rühmten sich Musiker, sie hätten das Werk für unsere Zeit gerettet, indem sie es durch Kürzungen erträglich machten. Wo also liegt die Wahrheit? Welche Zeit hatte den Schlüssel?
Verstehen wir etwa heute mehr von Kunst als die Menschen früher? Woher kommen all die Fehlurteile: über Bachs frivole Opernhaftigkeit, Mozarts unerträglichen Überschwang, Beethovens bizarre Modulationen etc. etc.? Bedenken wir, daß noch vor neunzig Jahren ein Maler wie El Greco nicht einmal erwähnenswert war (Meyers Lexikon), daß van Goghs Bilder keine Interessenten fanden!
All die so verschiedenartigen Werturteile wurden ja von interessierten Menschen gefällt, die es durchaus nicht verdienen, ausgerechnet von uns verlacht und verachtet zu werden. – Man meint eben immer wieder, trotz aller Rückschläge unbelehrbar, unsere Beurteilung von Kunstwerken gelte für alle Zeiten. In Wahrheit ist das große Kunstwerk ein vieldeutiges, kom...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Liebe Sophie
  7. Aufführungspraxis
  8. Phänomene des Musiklebens – Über das Musikhören
  9. Über Authentizität und Werktreue
  10. Warum immer Vibrato?
  11. Von den Wurzeln der abendländischen Musik zur Revolution um 1600
  12. Der 5. Oberton
  13. Von der »Mitteltönigkeit« zur »Wohltemperierten Stimmung«
  14. Zur Klangästhetik Monteverdis: Ist häßlich schön?
  15. Barockmusik in Europa – das Barockorchester
  16. Die vielen Arten von Cembalo
  17. Wolfgang Amadeus Mozart, der rätselhafte Genius
  18. Mozart und die Werkzeuge des Affen
  19. Zeitgeist, Mode und Wahrheit
  20. Ein Griffel in der Hand Gottes
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APA 6 Citation

Harnoncourt, N. (2020). Über Musik ([edition unavailable]). Residenz Verlag. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1781363/ber-musik-mozart-und-die-werkzeuge-des-affen-pdf (Original work published 2020)

Chicago Citation

Harnoncourt, Nikolaus. (2020) 2020. Über Musik. [Edition unavailable]. Residenz Verlag. https://www.perlego.com/book/1781363/ber-musik-mozart-und-die-werkzeuge-des-affen-pdf.

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Harnoncourt, N. (2020) Über Musik. [edition unavailable]. Residenz Verlag. Available at: https://www.perlego.com/book/1781363/ber-musik-mozart-und-die-werkzeuge-des-affen-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Harnoncourt, Nikolaus. Über Musik. [edition unavailable]. Residenz Verlag, 2020. Web. 15 Oct. 2022.