1 Organisationstheorien
EinfĂŒhrung
Organisationstheorien haben erst eine Tradition, seit es gröĂere Organisationen gibt, d. h. also seit der Zeit der Industrialisierung. Die gröĂeren Organisationen, die es vor der Industrialisierung gab, waren kirchliche Einrichtungen wie Klöster oder der Vatikan, der Hof eines Königs oder Kaisers oder das MilitĂ€r. Auch der Bau der Pyramiden in Ăgypten, römischer StĂ€dte oder der Chinesischen Mauer erforderte die Organisation von tausenden von Arbeitern (Kwok, 2014; Morgan, 1997; Kieser, 1999). Organisationstheorien gab es damals aber noch nicht.
Die ersten gröĂeren Organisationen, die in der Zeit der industrielle Revolution entstanden, orientierten sich in ihrem Entstehen hĂ€ufig an militĂ€rischen Organisationen, den mehr oder weniger einzigen zur VerfĂŒgung stehenden Vorbildern. Das wird vor allem an den auch heute noch verwendeten englischen Begriffen deutlich: »company« (die Kompanie, heute Unternehmen genannt), »divisions« (die Division, heute der GeschĂ€ftszweig), »chief executive officer« (der Offizier, im deutschen der/die GeschĂ€ftsfĂŒhrerIn oder der Vorstand bzw. die VorstĂ€ndin), »strategy« (die Unternehmensstrategie), »operations« (die wertschöpfenden TĂ€tigkeiten) und »staff and line« (das Stab-und-Linien-Prinzip).
Jede/r von uns hat heute mit einer Vielzahl von Organisationen zu tun â von der Geburt bis zum Tod. Man wird in der Regel in einer Gesundheitsorganisation (z. B. einem Krankenhaus) geboren und bei der Stadtverwaltung beim Einwohnermeldeamt »gemeldet«. SpĂ€ter folgen Besuche von Kindergarten, Grund- und weiterfĂŒhrenden Schulen, ggf. UniversitĂ€ten, bis Sie schlieĂlich bei einem Arbeitgeber Ihrem Beruf nachgehen. Sie haben mit Organisationen wie Krankenkassen, Rentenkassen, Unfall- und Lebensversicherungen zu tun, profitieren von der MĂŒllabfuhr, fliegen mit einer Fluggesellschaft, fahren mit der Bahn oder mit dem Fernbus in den Urlaub und selbst Ihre Beerdigung wird von einem Bestattungsunternehmen organisiert.
Lernziele
âą Sie lernen, was Organisationstheorien sind und was sie leisten wollen.
âą Sie werden dafĂŒr sensibilisiert, wie sich der Zeitgeist in den Theorien widerspiegelt.
âą Sie können eine historische Einordnung der Theorien vornehmen und verstehen ihre Bedeutung fĂŒr die arbeits- und organisationspsychologische Forschung.
⹠Sie lernen die klassischen Theorien der AnfÀnge der Massenproduktion kennen.
âą Sie lernen moderne Theorien kennen.
âą Sie erkennen Anwendungsbereiche der sozio-technischen Systemgestaltung.
1.1 Womit befassen sich Organisationstheorien?
Organisationstheorien bilden ein Forschungs- und Wissensgebiet, das das Wesen, die Eigenschaften und UmstĂ€nde von einzelnen Organisationen oder auch Gesamtheiten von Organisationen beschreibt und erklĂ€rt (Huber, 2011). Mit dem Wesen der Organisationen meint Huber (2011) deren Strategie, Kernprozesse und Routinen, die Struktur, FĂŒhrungsprozesse, die MitarbeiterInnen und deren verschiedene Kombinationen. Hatch und Cunliffe (2013) beschreiben ergĂ€nzend das Wesen einer Organisation anhand ihrer physikalischen Struktur, der sozialen Struktur, der Technologie und der Kultur.
Mit den
UmstÀnden einer Organisation oder eine Gesamtheit von Organisationen bezeichnet Huber (2011) die Geschwindigkeit und das Ziel ihrer VerÀnderung, ihre Entwicklungsstufen (z. B. deren Alter und Reife,
Kap. 2), ihre Leistung und ihren Zustand in Bezug auf ihr Ăberleben.
Was ist eine Organisation?
Organisationen sind sozialkonstruierte, zielgerichtete, grenzenziehende, hierarchisch differenzierte, offene Systeme menschlicher AktivitÀt (Huber, 2011).
Das heiĂt,
âą dass lebendige Wesen dem System durch ihre Interaktionen eine Form geben bzw. es auch umformen (âsozial konstruiert, so lassen sich Organisationformen verĂ€ndern, vergröĂern, verkleinern).
âą dass jeder Komponente des Systems zumindest eine AktivitĂ€t zugewiesen ist, die dazu beitrĂ€gt, das Ăberleben der Organisation zu sichern oder zu einer spezifischen Zielerreichung beizutragen (â zielgerichtet, so mĂŒssen die Komponenten des Systems zur ErfĂŒllung der Strategie eines Unternehmens beitragen).
âą dass Organisationen Routinen anwenden, um die Organisationmitglieder von den Nicht-Mitgliedern zu unterscheiden (â grenzenziehend, z. B. durch Werksausweise, durch Eingangstore, Besucheranmeldung).
âą dass eine oder mehrere hierarchische Komponenten bestehen, die die AutoritĂ€t besitzen, AktivitĂ€ten an eine oder mehrere untergeordnete Komponenten zuzuweisen (â hierarchisch differenziert).
âą dass das System mit seinem Umfeld interagiert (â offenes System, z. B. indem es auf RĂŒckgang oder Zunahme der Nachfrage reagiert).
Nach Sander und Kianty (2006), Kieser und Kubicek (1978) sowie Nerdinger et al. (2011) sind Organisationen soziale Gebilde oder Systeme, die dauerhaft und zeitlich stabil ein Ziel verfolgen und eine formale Struktur aufweisen, mit deren Hilfe AktivitĂ€ten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerichtet werden sollen und die gegenĂŒber der Umwelt offene Systeme sind.
Das wohl markanteste Merkmal von Organisationen ist die Ausrichtung aller AktivitĂ€ten auf ein ĂŒbergeordnetes Ziel hin, welches ĂŒber lĂ€ngere ZeitrĂ€ume hinweg verfolgt wird.
Kurzfristige Ziele gelten meist ein bis drei Jahre, mittelfristige Ziele sind auf ca. drei bis fĂŒnf Jahre angelegte Handlungsziele, langfristige Ziele leiten die AktivitĂ€ten zwischen fĂŒnf und zehn Jahren.
Diese Ziele lassen sich grob in »Profit«- und »Non-profit«-Ziele unterteilen, d. h., Organisationen unterscheiden sich dahingehend, ob sie wirtschaftliche oder nicht wirtschaftliche Ziele verfolgen (Bokranz, 1994).
Beispiel Organisationale Ziele (Perrow, 1970; McKenna, 2000)
Ergebnisbezogene Ziele: Ziele zur Befriedigung von Kund/innenbedarfen und -bedĂŒrfnissen im Hinblick auf GĂŒter oder Dienstleistungen, als primĂ€res Ziel von Organisationen
Gesellschaftliche Ziele: Ziele bezogen auf die Produktion von GĂŒtern oder die Erbringung von Dienstleistungen, den Erhalt der Ordnung oder die Festigung kultureller Werte
Systemziele: Ziele, die die Interessen der Organisation fördern, wie z. B. die Steigerung der organisationalen Effizienz, des Wachstums, oder die MarktfĂŒhrerschaft zu erhalten. Es besteht eine Interaktion von Systemzielen und Ergebniszielen.
Produktbezogene Ziele: Ziele, die sich auf die Art eines spezifischen Produktes beziehen
Ăbergeordnete Werteziele: Ziele, die das Top Management aus der organisationalen Machtstruktur zieht, um gesellschaftliche und kulturelle Werte zu fördern, wie z. B. ArbeitsplĂ€tze zu schaffen, in denen sich Mitarbeiter/innen bestmöglich entwickeln können, sich in der Gesellschaft zu engagieren oder Kunstprojekte zu fördern.
Ein ebenso markantes Merkmal ist das der Struktur. Die Strukturen gelten nach Bornewasser (2009) als Vermittler zwischen Personen und Organisationen. Anders als in Freundschafts- oder Gruppenbeziehungen, die auf ungeregelten und freiwilligen Face-to-Face-Interaktionen aufbauen, werden Beziehungen in Organisationen bewusst hergestellt und geordnet (z. B. Wer spricht mit welchen Kunden ĂŒber was? Wer muss wessen Erlaubnis/Zustimmung einholen?), wechselseitig anerkannt und durch verschiedenste Instanzen ĂŒberwacht (Bornewasser, 2009), wie z. B. der Vorstand eines börsennotierten Unternehmens vom Aufsichtsrat, von der Konzernrevision sowie vom Compliance Management kontrolliert wird.
Beziehungen in Organisationen unterliegen somit vielfĂ€ltigen rechtlichen und konventionellen Regelungen, d. h. diese regeln, wer die Verantwortung fĂŒr welche Entscheidungen oder fĂŒr welche Ergebnisse trĂ€gt. Das Handeln in Organisationen wird somit im Kontext dieser Regelungen interpretiert und bewertet und erfolgt mit Bezug auf die Strukturen der Organisation.
Organisationen agieren aus heutiger Sicht als offene Systeme in einem Umfeld, z. B. dem »Markt«.
Organisationen sind energetische offene Systeme (Katz & Kahn, 1966). Sie nutzen Energie als Input (Energie kann dabei Material, menschliche Arbeitskraft, Informationen, Werkzeuge, ElektrizitĂ€t oder Ăl sein sowie Geld), transformieren diese Energie im System (Throughput) und erzeugen dadurch ein Produkt oder einen energetischen Output.
Das organisationale Umfeld lÀsst sich in verschiedene Sektoren einteilen (
Abb. 1.1). Anhand eines Beispiels der noch jungen Fernbus-Unternehmen und deren Dienstleistungen sollen diese Sektoren verdeutlicht werden.
Die organisationale Umwelt lÀsst sich unterteilen
âą in einen juristischen/gesetzlichen Sektor. Bei den Fernbusunternehmen mussten die gesetzlichen Grundlagen fĂŒr das Anbieten von Langstreckenfahrten mit Bussen erst geschaffen werden. Zum Schutz der Bahn war der Fernbusverkehr in Deutschland bis 2012 per Gesetz weitgehend verboten.
âą in einen physischen Sektor, wie z. B. die Anzahl der Personen in der Zielgruppe und das verfĂŒgbare Autobahnnetz, das Fernbusreisen ermöglicht oder einschrĂ€nkt.
âą in einen ökonomischen Sektor, wie z. B. die Frage nach der RentabilitĂ€t, wenn Fernbusreisende nur sehr wenig fĂŒr ein Ticket zu zahlen bereit sind. Welche Nachfrage herrscht in der relevanten Umwelt? Welches Pricing ist fĂŒr die Reisenden akzeptabel?
âą in einen technologischen Sektor, d. h. welche Technologien entwickeln sich und welche sind ĂŒberholt? Im Beispiel der Fernbusse schĂ€tzen viele Reisende das freie WLAN-Angebot im Bus, aber auch das einfache Buchen der Tickets ĂŒber das Internet und das Smartphone.
âą in einen sozialen Sektor, z. B. die Unsicherheit, ob im Falle eines rasanten Wachstums der Fernbusbranche genug Busfahrer zur VerfĂŒgung stĂŒnden.
âą in einen politischen Sektor, d. h. im Beispiel der Fernbusunternehmen die Liberalisierung des Marktes, die Subventionierung des Diesels, und
⹠in einen kulturellen Sektor, z. B. die Aspekte der MobilitÀt innerhalb einer Familie und der »Reiselust und Freiheit«.
Abb. 1.1: Sektoren der organisationalen Umwelt
Mit der Beschreibung und ErklÀrung vom Wesen und den UmstÀnden von Organisationen versuchen Organisationstheorien u. a. folgende Fragen zu beantworten:
⹠Warum wÀchst oder schrumpft eine Population von Organisationen in einem oder mehreren MÀrkten?
âą Warum ist eine Organisation erfolgreich und eine andere nicht?
âą Warum sind einige Organisationen in dieser und jener Industrie so stark gegliedert und andere nur lose gekoppelt? (Huber, 2011)
So sind seit 2013, als der Markt zu Gunsten der Fernbusse liberalisiert wurde, bereits diverse Fernbusanbieter schon wieder vom Markt »verschwunden« oder haben sich zusammengeschlossen.
Beispiel Schrumpfen und Wachsen einer Population von Organisationen
»Zum Schutz der Bahn war der Fernbus-Verkehr in Deutschland bis 2012 per Gesetz weitgehend verboten. Nach der Liberalisierung 2013 boomt der Markt jedoch mit immer neuen Anbietern. Einige haben sich wegen des harten Preiskampfes bereits wieder zurĂŒckgezogen. Die beiden MarktfĂŒhrer, MeinFernbus und Flixbus, schlossen sich kĂŒrzlich zusammen und wollen ihr Angebot 2015 nahezu verdoppeln. Bus-Tickets sind im Vergleich zum Zug weit gĂŒnstiger, wenn auch die Fahrten im Allgemeinen lĂ€nger dauern« (Handelsblatt online, 2015a, o. S.).
Inzwischen hat auch die Deutsche Bahn ihre Fernbus-AktivitÀten eingestellt. Den Markt beherrschte zum Jahresende 2018 mit 95,4 % Flixbus (IGES Institut, 2019).
Organisationtheorien dienen demnach dem Zweck, das Entstehen (z. B. von Start-ups in der »Garage« wie bspw. bei Microsoft oder Google), das Bestehen (Wie wird aus einem Start-up ein dauerhaft ĂŒberlebensfĂ€higes Unternehmen? Wie hĂ€lt sich eine Organisation im Markt, auch wenn sich Technologien verĂ€ndern?) und die Funktionsweise von Organisationen (Wie funktionieren bspw. Google und McDonaldâs?) zu erklĂ€ren und zu verstehen. Sie dienen damit nach Scherer (1999) implizit oder explizit der Verbesserung der Organisationspraxis.
Beispiel Niedergang
Wer heute ein Smartphone verwendet, besitzt sehr wahrscheinlich ein GerÀt von Apple oder Samsung. Das war vor ein...